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Was bedeutet Erinnerungskultur: Definition, Methoden, Perspektiven und Bedeutung


was bedeutet erinnerungskultur

Das Konzentrationslager Ausschwitz als Mahnmal der Erinnerungskultur


Als Erinnerungskultur bezeichnet man sowohl die kollektive, also gemeinschaftliche als auch persönliche Auseinandersetzung mit der Geschichte in einer bewussten, aber sich Dritten nicht aufdrängenden Form. Dabei ist der Begriff der Erinnerungskultur aber nicht einheitlich definiert und hängt stark vom Blickwinkel des Einzelnen ab.

Wie definiert sich Erinnerungskultur

Eine wirklich abschließende Definition des kulturwissenschaftlichen Begriffs Erinnerungskultur gibt es nicht. Grob umfasst sie die bewusste, aber nicht zwingend ausdrückliche Auseinandersetzung mit der Geschichte. Ein Denkmal etwa wird bewusst errichtet, zwingt sich als solches dem Betrachter aber nicht auf. Es fordert also zum Erinnern auf, überlässt es aber jedem selbst, ob er dem auch nachkommt.

Erinnerungskultur wird von verschiedenen Historikern unterschiedlich beschrieben. Der Historiker Hans Günter Hockerts sieht Erinnerungskultur als einen Sammelbegriff „für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte in der Öffentlichkeit“.

Während Hockerts die Wissenschaft tendenziell eher ausklammert, bezieht Christoph Cornelißen sie ausdrücklich mit ein und bezeichnet die Erinnerungskultur: „als einen formalen Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse, seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur“.

Ferner sei die Erinnerungskultur funktionaler und somit greifbarer und erlebbarer als die bloße geschichtliche Betrachtung. Träger der Erinnerungskultur können demnach sowohl einzelne Personen als auch Gruppen, ja ganze Staaten sein. Der Ägyptologe, Historiker und Kulturwissenschaftler Jan Assmann sieht deshalb in der Erinnerungskultur auch etwas Gemeinschaftsstiftendes, hebt sie aber klar von der Tradition, die in die Gegenwart fortbestehe, ab.

Assmanns Frau Aleida Assmann erachtet den Begriff der Erinnerungskultur als „inflationär ausgebreitet“ und definiert ihn verschiedentlich: zunächst einmal als „Pluralisierung und Intensivierung der Zugänge zur Vergangenheit“, also als eine Auseinandersetzung mit der Geschichte, die über die akademische Geschichtsforschung hinausgeht.

Aber auch „die Aneignung der Vergangenheit durch eine Gruppe“ zählt Assmann zur Erinnerungskultur ebenso wie quasi entgegengesetzt „die ethische Erinnerungskultur“, bei der sich eine Gruppe kritisch mit den Verbrechen der eigenen Gesellschaft bzw. Staates auseinandersetzt und dabei insbesondere die Perspektive der Opfer ins Zentrum rückt.

Warum ist Erinnerungskultur wichtig

Es heißt „Aus Fehlern lernt man.“ Es hat aber niemand gesagt, dass man die alle selbst machen muss. Aus der Geschichte zu lernen und sich ihrer bewusst zu sein, bedeutet die Gegenwart besser verstehen und die Zukunft formen zu können. Erinnerungskultur ruft uns die Vergangenheit ins Gedächtnis und kann uns so wichtige Lektionen für die Bewältigung aktueller Krisen bieten.

Formen und Methoden der Erinnerungskultur

Grabmäler und Mausoleen

Die wohl älteste Form der Erinnerungskultur stellen Grabmäler und Mausoleen dar. Sie nehmen auch insofern eine Sonderrolle ein, da hier die Person, derer sich erinnert werden soll, oder deren Zeitgenossen aktiv zur Erinnerungskultur beitragen, indem sie zu Lebzeiten oder kurz nach dem Ableben Gedenkstätten zu Ehren einer oder mehrerer Personen errichten. Beispiele hierfür wären etwa die Pyramiden im Alten Ägypten, das Mausoleum des ersten chinesischen Kaisers Qin Shihuangdi oder auch das Lenin-Mausoleum in Moskau, wobei Lenin selbst den Personenkult, der später um ihn betrieben wurde, ablehnte.

Denkmäler

Denkmäler können wie Grabmäler zeitnah zu den Personen, denen sie gewidmet sind, errichtet werden. Oftmals entstehen sie aber auch lange nach ihnen. Es gibt verschiedene Ausformungen von Denkmälern. Ein häufiger Typus ist das Kriegerdenkmal, das an Feldherren oder ganze Gruppen von Personen erinnern soll, die einen militärischen Erfolg erzielt, seltener eine Niederlage erlitten haben.

Denkmäler können auch anderen historischen Ereignissen oder Idealen gewidmet sein. Die Darstellungsformen reichen von Statuen über Türme und Stelen bis hin zu Gedenktafeln. Bei Denkmälern, die an negative Ereignisse erinnern sollen, spricht man auch von einem Mahnmal. Beispiele für Kriegerdenkmäler wären etwa das Hermannsdenkmal, aber auch das United States Marine Corps War Memorial. Sonderformen stellen Siegessäulen wie die Nelsonsäule auf dem Trafalgasqaure oder Triumphbögen wie der Arc de Triomphe de l’Étoile auf dem Place Charles de Gaulle dar.

Andere Statuen, die bedeutenden Persönlichkeiten gewidmet sind, wären zum Beispiel die Statue der Einheit in Gujarat oder die Karl-Marx-Statue in Trier. Personen gewidmete Denkmäler müssen jedoch keine Statuen sein, so gibt es überall in Deutschland sogenannte Bismarcktürme, die dem früheren deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck gewidmet sind. Ebenfalls in Deutschland verbreitet sind die Stolpersteine, kleine Gedenktafeln, die als Mahnmale an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern.

Widmungen

Neben Denkmälern können auch nach Personen und Ereignissen benannte Orte, Ehrungen, Institutionen und Stiftungen Teil der Erinnerungskultur sein. So tragen viele öffentliche Orte wie Straßen, Parks, Gebäude oder Plätze die Namen geschichtsträchtiger Personen und Geschehnisse. So sind etwa Schulen oft nach historischen Persönlichkeiten benannt. Dann gibt es Ehrungen wie den Nobelpreis oder den Karlspreis, die nach Menschen benannt sind, in deren Sinne die Preisträger aus heutiger Sicht gehandelt haben sollen. Stiftungen können sowohl die Namen ihrer Begründer als auch geistigen Väter bzw. Mütter tragen. Auch diese Form der Ehrerbietung ist Teil der Erinnerungskultur.

Zeitzeugnisse

Bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte sind originale Zeugnisse aus der jeweiligen Zeit das wichtigste Mittel, um eben jene zu verstehen. Das können Primärquellen in Text, Bild und Ton sein. Als Primärquellen bezeichnet man in der Geschichtsforschung mediale Erzeugnisse, die selbst nicht auf andere Quellen Bezug nehmend entstanden sind. Sekundärquellen wiederum analysieren Primärquellen. Andere originale Zeugnisse sind noch bestehende Bauwerke, aber auch Dinge des täglichen Lebens, die die Zeit überdauert haben. Im Gegensatz zu Denkmälern und Mausoleen sind diese Zeugnisse aber nicht in Hinblick auf die Nachwelt und die Erinnerungskultur entstanden, sondern sind Überbleibsel vergangener Zeit.

Mediale und künstlerische Aufarbeitung

Die Präsentation der Erkenntnisse über die Vergangenheit in Form von Büchern, Filmen oder Serien sind ein Teil der Erinnerungskultur, der stets erst im Nachhinein entsteht. Da selbst die Auswahl der in einer Dokumentation verwendeten Erkenntnisse eine Wertung darstellt, sind diese Formen der Aufarbeitung nie unverfälscht, sondern stets eine Interpretation durch die Macher. Dies gilt besonders für künstlerische Aufarbeitungen, die zwar auf Fakten basieren, diese aber nicht eins-zu-eins wiedergeben.

Ein Spielfilm etwa ist für gewöhnlich eine fiktionalisierte Aufarbeitung der Geschichte. Eine sehr junge Form dieser Art von Erinnerungskultur stellt die interaktive Aufarbeitung in den sozialen Medien im Rahmen von Projekten wie eva.stories oder @ichbinsophiescholl dar, wobei letzteres Projekt unter anderem von Satiriker Jan Böhmermann äußerst kritisch betrachtet wurde. Eine andere interaktive Form der Erinnerungskultur stellen Reenactments, also Nachstellungen historischer Ereignisse oder Epochen, und historische Freilichtmuseen dar.

Sonstige Formen der öffentlichen Erinnerungskultur und des Gedenkens

Neben den genannten Formen kann Erinnerungskultur auch in Form von Gedenktagen und -Festen bzw. entsprechenden festlichen Veranstaltungen erfolgen. Der Staat kann zur Erinnerungskultur überdies durch Herausgabe von Gedenkmünzen oder -Briefmarken beitragen.

Private Erinnerungskultur

Im persönlichen und privaten Rahmen erfolgt Erinnerungskultur etwa durch das Bewahren von Familienerbstücken, aber auch durch Ahnenforschung oder gar etwas so simples wie ein Album mit Familienfotos.

Perspektiven der Erinnerungskultur

Erinnerungskultur hilft, Geschichte lebendig und im kollektiven Gedächtnis gegenwärtig zu halten. Aus der Geschichte zu lernen, sich ihrer bewusst zu sein, lehrt uns Lektionen zur Gestaltung der Zukunft. Sie hilft uns aber auch verstehen, warum die Welt heute so ist, wie sie ist. Denn die Menschheit ist nun einmal gewachsen, ehe sie zu dem wurde, das sie heute ist.

In Abhängigkeit vom eigenen kulturellen Hintergrund und der eigenen ideologischen Position kann sich die Erinnerungskultur verschiedener Menschen voneinander teils drastisch unterscheiden. Immer öfter hört man auch, dass Menschen die Erinnerungskultur leid sind. Sie wollen nicht an die oftmals dunklen Kapitel der Vergangenheit erinnert werden. Dies betrifft besonders, wenn auch nicht ausschließlich die NS-Zeit.

An eben der zeigen sich auch überdeutlich die verschiedenen Betrachtungswinkel auf die Erinnerungskultur. Während die meisten Menschen den Holocaust als größtes Verbrechen der Menschheit sehen und Mahnmale wie das in Berlin für wichtig erachten, sprach AfDPolitiker Bernd Höcke von einem „Mahnmal der Schande“ und sein Parteikollege Alexander Gauland bezeichnete die 12 Jahre NS-Herrschaft als „Vogelschiss“ in den 1000 Jahren deutscher Geschichte.

Aber die Erinnerungskultur ist auch einem Wandel unterworfen. Die modernen Massenmedien nehmen einen immer größeren Raum ein, während reale Zeugnisse der Geschichte im Bewusstsein der Laien an Bedeutung verlieren. Auch wenn Spielfilme und andere künstlerische Aufarbeitungen die Geschichte zugänglicher und intensiver erlebbar machen, bergen sie auch die Gefahr, die Geschichte im Bewusstsein des Publikums zu verfälschen.

Rolle des Staates

Der Staat spielt durch die Genehmigung von Denkmälern, die Finanzierung von Methoden der Erinnerungskultur und vor allem aktiv durch das Widmen eine zentrale Rolle. Der Staat entscheidet, nach wem ein öffentlicher Platz benannt wird, zu wessen Ehren Mahnmale errichtet und Gedenkmünzen geprägt werden. Dabei spielt nicht selten die politische Agenda der aktuellen Regierung eine Rolle, die die Erinnerungskultur für sich nutzbar machen will, indem sie sich in die Tradition früherer Herrscher stellt oder auch radikal mit ihnen bricht. Das kann mitunter verfälschende Ausmaße annehmen – sowohl in Form einer Glorifizierung als auch einer Dämonisierung.

Zusammenfassung

  • Erinnerungskultur bezeichnet im weitesten Sinne die bewusste Auseinandersetzung mit der Geschichte, ist aber kein klar abgesteckter Begriff.
  • Formen der Erinnerungskultur sind Grabmäler und Mausoleen, Denkmäler, Mahnmale, Widmungen, konservierte und aufbereitete Zeitzeugnisse, mediale und künstlerische Aufarbeitungen und Ahnenkunde.
  • Wie der Geschichte erinnert wird, hängt oft von der Perspektive des Einzelnen ab. Mitunter nutzt der Staat die Erinnerungskultur auch ganz bewusst für sich.
  • Ferner ist die Erinnerungskultur durch die Dominanz der modernen Massenmedien einem Wandel unterworfen.

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