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4 Unterschiede zwischen Geschichte und Vergangenheit


Die Vergangenheit ist die Summe aller zurückliegender Ereignisse. Geschichte ist die Wissenschaft, welche versucht eine Vergangenheit zu rekonstruieren. Somit bewirkt Geschichte, dass ein Abbild der Vergangenheit entsteht, aber sie vermag es nicht, die ganze Vergangenheit zu erklären.

Anhand von 4 Merkmale, lässt sich Geschichte von der Vergangenheit unterscheiden.

Größen- bzw. Mengenunterschied: Geschichte ist Teilmenge der Vergangenheit

Die Vergangenheit ist, laut Definition, eine Gesamtmenge aller zurückliegender Ereignisse. Jede Entscheidung oder Tat eines jeden Menschen – welcher jemals lebte – ist Teil dieser Vergangenheit. Somit besitzt jeder Mensch eine individuelle Vergangenheit. Diese individuelle Vergangenheit ist somit eine Gesamtheit der Erlebnisse, Erfahrungen, Gedanken und Taten eines Menschen.

Die Summe der individuellen Vergangenheiten aller Menschen, welche heute leben und welche jemals gelebt haben – wäre demnach eine kollektive Vergangenheit. Die Menschheitsgeschichte, welche im Geschichtsunterricht vermittelt wird, versucht diese Gesamtheit abzubilden, vermag es allerdings nicht. Deshalb stützt sich die Geschichte lediglich auf umwälzende Prozesse, Entscheidungen oder Taten, welche in der Vergangenheit dazu führten, dass sich die Lebensweise des Menschen änderte.

Somit ist der Geschichtsbegriff, welchen die Menschheitsgeschichte verwendet, viel enger gefasst – als der Vergangenheitsbegriff. Dadurch wird die Darstellung der Geschichte weniger komplex, stützt sich auf wesentliche Ereignisse bzw. deren Umstände und sorgt so für ein verständlichere Vermittlung.

Die Menschheitsgeschichte ist allerdings auch nur ein Teilgebiet des Geschichtsbegriffes. Denn die Erdgeschichte oder die Geschichte über die Entstehung der Arten ist viel langwieriger. Falls Naturwissenschaftler, welche diese beiden Gebiete untersuchen, eine Vergangenheit rekonstruieren wollten – müssten sie ebenfalls jeden Stein, jedes bereits gestorbene Individuum untersuchen und so eine umfassende Deutungshoheit zu erlangen.

Da auch dies nicht möglich ist, versucht die Forschung zur Erdgeschichte ebenfalls umwälzende Ereignisse zu finden, welche die Erde und ihre Beschaffenheit grundlegend änderten. In der Artgeschichte beschäftigt sich die Evolutionslehre mit der Untersuchung von Fossilien, um eine Vorstellung zu erlangen – wann sich gewisse Arten bildeten, sich von anderen Arten abspalteten und welche Umstände dafür verantwortlich waren.

Bewusstseinsunterschied: Geschichte schafft ein Bewusstsein für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Ein Bewusstsein entsteht dann, wenn sich ein Mensch seiner Taten oder Entscheidungen bewusst ist. Das Individuum kennt seine eigene Vergangenheit und bei zukünftigen Entscheidungen findet ein Abgleichprozess statt. Somit werden Erfahrungen der Vergangenheit herangezogen, um zukünftige Entscheidungen und deren Konsequenzen besser einzuordnen.

Dieses Erfahrungs-Bewusstsein, welches durch die erlebte Vergangenheit entsteht, ist erst einmal nur ein rein Individuelles. Gleichzeitig existiert allerdings auch ein Geschichtsbewusstsein. Denn die Menschheit weiß um ihre Taten, welche Fehler gemacht worden und welche Anstrengungen nötig waren, um diese Perioden zu überwinden. Somit schafft Geschichte auch ein kollektives Bewusstsein für eine Region, einen Staat oder eine Religion.

Geschichtsbewusstsein ist allerdings etwas, was mit Zughörigkeit einhergeht. Denn Menschen in Europa besitzen ein anderes Geschichtsbewusstsein als Menschen in Afrika, Amerika oder Asien. Zwischen den Kulturen existieren zwar Gemeinsamkeiten, da die Geburt der Menschheit nun einmal in Afrika war. Dennoch hat jedes Volk eine andere Geschichte, wodurch ein anderes Bewusstsein für diese Vergangenheit entsteht.

Einstige Menschen aus Europa haben sich gewisse Freiheitsrechte durch diverse Revolutionen erkämpft. Deshalb existiert dort ein Bewusstsein für freie Wahlen, freie Meinungsäußerungen und Ähnliches. In gewissen Teilen der Welt wurden diese Errungenschaften nicht erkämpft, weil es bisher vielleicht auch noch nicht nötig war. Somit existiert dort ein anderes Bewusstsein für die Gegenwart, welches – zum Teil – das Ergebnis der erlebten Vergangenheit ist.

In Europa wurden zwei Weltkriege geführt, der Holocaust und Faschismus überwunden. Dies führte zu Abkommen, wie der NATO, den Vereinten Nationen, einem vereinten Europa, Einführungen von Demokratien und Grundrechten, wie Menschenwürde und dem Recht auf Leben. In anderen Nationen wurden diese Werte nicht errungen, aufgrund ihres fehlenden Erfahrungsschatzes.

Somit haben die individuellen Erfahrungen der Vergangenheit einen großen Einfluss auf Gegenwart und Zukunft. Die kollektiven Erfahrungen einer Gemeinschaft äußern sich dann in Wertvorstellungen, Gesetzen, Moral und das gesellschaftliche Miteinander.

In diesem Zusammenhang kann man sagen, dass die Menschheitsgeschichte ein Teilausschnitt der Vergangenheit ist, das kollektive Bewusstsein prägt und somit Einfluss auf die Gegenwart ausübt.

Darstellungsunterschied: Durch Geschichte entsteht ein Bild der Vergangenheit

Eine übergeordnete Aufgabe der wissenschaftlichen Geschichte ist es, ein Bild von der kollektiven Vergangenheit zu rekonstruieren. Dieses Bild muss allerdings so stimmig sein, dass es mit den individuellen Vorstellungen nicht aneckt bzw. große Gemeinsamkeiten hat.

Wie?
Angenommen eine breite Masse lehnt die Errungenschaften der französischen Revolution (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) ab. Aber gleichzeitig vermittelt die Geschichte ein Bild, dass diese Errungenschaften großartig und erstrebenswert waren. Dann weicht dieses Geschichtsverständnis derart stark von den Vorstellungen der Masse ab, dass das kollektive Geschichtsbewusstsein gefährdet wird.

Dies führt dann dazu, dass die Wertvorstellungen der französischen Revolution nicht mehr aufrechterhalten werden können. Die Vergangenheit bzw. das Bild von der Vergangenheit ändern sich. Werte, welche als richtig angenommen werden, müssen dann aufgegeben werden.

Ein anderes plausibleres Beispiel wäre der Faschismus. Wenn heutzutage viele Menschen glauben würden, dass diese menschverachtende Zeit richtig und nicht absurd wäre – dann könnte man das Bild der Geschichte nicht so entwerfen, wie es heute geschieht. Dann wären Errungenschaften wie Demokratie, Menschenwürde, diverse Freiheitsrechte oder das Recht auf Leben keine Werte, sondern gesellschaftliche Hürden.

Geschichte vermittelt demnach ein Bild einer Vergangenheit und transportiert dabei gewisse Werte, Mahnungen und Wegweiser mit. Wollte man die Umstände der gesamten Vergangenheit einer jeden Person dieser Welt entwerfen, könnte man kein Gesamtbild transportieren.

Objektivitätsunterschied: Geschichte versucht eine verzerrte Vergangenheit zu entzerren

Die individuelle Vergangenheit ist verzerrt. Denn in der Rückschau ergeben sich Fehler, welche psychologisch begründet sind. Diese Rückschaufehler beruhen auf falsche Annahmen, Selbstüberschätzung und andere Faktoren.

Wieso?
Wie bereits oben beschrieben, macht sich Geschichte an Ereignissen fest, welche einen Wandel eingeleitet haben. In der individuellen Geschichte eines jeden Einzelnen könnten solche Ereignisse: eine Hochzeit, eine Trennung, die Geburt von Kindern, ein Jobverlust bzw. Kündigung oder auch der Streit mit einem Kollegen, Freund, Nachbarn oder Partner sein.

Wenn jetzt zwei Beteiligte auf diese Ereignisse zurückschauen, ergeben sich wahrscheinlich verschiedene Meinungen zu den Umständen, welche zum Ereignis führten. Bei einer Kündigung gibt es eine Arbeitnehmer- und eine Arbeitgebermeinung. Zur Trennung oder Scheidung existieren wahrscheinlich ebenfalls unterschiedliche Meinungen der frisch Geschiedenen, hinsichtlich den Ursachen und Umständen.

Und genauso wäre es in der kollektiven Vergangenheit. Doch die Geschichte betreibt Quellenarbeit, um eine subjektive Vergangenheitsrekonstruktion weitestgehend auszuschließen. Bei den sogenannten Geschichtsquellen handelt es sich um Urkunden, Gesetzestexte, Chroniken oder archäologische Funde.

Diese werden untersucht, analysiert und mit anderen Quellen abgeglichen. Dies macht die wissenschaftliche Forschung, um stichhaltige Quellen von Fälschungen zu trennen. Erst durch die Untersuchung von sehr vielen Quellen kann ein zurückliegendes Ereignis rekonstruiert werden. Durch diese Maßnahmen wird dann erreicht, dass sich ein objektiverer Standpunkt ergibt, als es eine individuelle Rückschau des Einzelnen zulässt.

Man kann sagen, dass Geschichte versucht, Objektivität herzustellen. Bei der Rückschau in die individuelle Vergangenheit eines Menschen gelingt dies meistens nicht bzw. wird auch nicht angestrebt.

Zusammenfassung

  • Die Vergangenheit umfasst die Summe aller Einzelerlebnisse der gesamten Menschheitsgeschichte, der Erdgeschichte und der biologischen Geschichte aller Arten. Demnach ist dies ein unfassbar großer Begriff.
  • Um dies zu vereinfachen, hält sich der Geschichtsbegriff, welcher beispielsweise im Geschichtsunterricht behandelt wird, nur an bestimmten Ereignissen auf.
  • Diese Ereignisse kennzeichnen sich durch einen Wandel, welcher die Lebensweise der Mehrheit aller Menschen veränderte.
    Gleichzeitig versucht Geschichte eine Vergangenheit zu rekonstruieren, ein kollektives Geschichtsbewusstsein zu schaffen und ein weitestgehend einheitliches Geschichtsbild zu entwerfen.
  • Dazu werden Methoden eingesetzt, um Fehler bei der Vergangenheitsbetrachtung auszuschließen und an Objektivität zu gewinnen.
  • Die Vergangenheit ist meistens ein individueller Begriff und Geschichte versucht ein globaler zu sein. Dadurch können Komplexität entnommen, kollektive Werte geschaffen und Bilder transportiert werden.

Literatur

  • Kurt Flasch: Was ist Zeit?, Klostermann, Vittorio, Auflage 2016, ISBN 3465042638*
  • Walther Ch. Zimmerli, Mike Sandbothe: Klassiker der modernen Zeitphilosophie, ISBN 3534120132*
  • Jörg Baberowski: Der Sinn der Geschichte: Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault. C.H. Beck, München 2005, ISBN 978-3406669170*
  • Marc Bloch, Peter Schöttler, Jacques Le Goff, Wolfram Bayer: Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers. (Neudruck) Klett-Cotta, Stuttgart 2002, ISBN 3-608-94170-3*
  • Jörn Rüsen: Historische Vernunft: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, ISBN 978-3525334829*
  • Jörn Rüsen: Rekonstruktion der Vergangenheit: Die Prinzipien der historischen Forschung, ISBN 978-3525335178*

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