Skip to main content

Systemischer Ansatz in Psychologie & Verhaltenstherapie


Jede psychologische Strömung hat ihre eigenen Vorstellungen davon, wie die menschliche Psyche funktioniert. Sei es die behavioristische Annahme, dass das menschliche Verhalten allein auf Lernerfahrungen basiere oder die tiefenpsychologische Idee vom Menschen als triebgesteuertes Wesen.

Doch ist das menschliche Erleben und Verhalten so leicht zu erklären? Was diese und andere Strömungen häufig außer Acht lassen, ist das soziale Umfeld des Individuums. Der systemische Ansatz sucht die Ursachen eines bestimmten Verhaltens nicht nur im Individuum selbst, sondern bezieht auch dessen „Systeme“ ein. Mit Systemen sind verschiedene soziale Netzwerke gemeint. Die wichtigste Rolle spielt hier die Familie.

Was versteht man unter dem systematischen Ansatz in der wissenschaftlichen Psychologie?

Zirkularität statt Kausalität.
Bei der Bezeichnung „systemischer Ansatz“ handelt es sich um einen Sammelbegriff für therapeutische Ansätze, die sich von den Annahmen der anderen psychotherapeutischen Schulen abheben. Im Gegensatz zu diesen gehen systematische Ansätze nicht von dem Konzept der Kausalität aus. Bei diesem wird angenommen, dass sich eine psychische Erkrankung auf eine oder mehrere Ursachen zurückführen lässt.

Systemische Ansätze gehen stattdessen davon aus, dass eine Zirkularität für die Entstehung psychischer Erkrankungen verantwortlich ist. Hier liegt der Fokus nicht auf der Suche nach einer auslösenden Ursache, sondern auf einem komplexen Netzwerk verschiedener Faktoren. Die Symptomatik einer psychischen Erkrankung geht nach der Auffassung systemischer Ansätze also nicht auf einen Faktor zurück. Vielmehr kommen Erkrankungen durch einen Prozess zustande, in welchen viele unterschiedliche Faktoren zusammenwirken.

Psychische Krankheiten können demnach auch ein Resultat eines bestimmten Systems sein. Systemische Ansätze beschränken sich nicht auf das biologische System des Menschen. Störungen sind nicht allein auf beispielsweise ein aus dem Gleichgewicht geratenes Verhältnis von Neurotransmittern im Gehirn zurückzuführen.

Das soziale System spielt hier eine wichtigere Rolle und soll die Ursachen für die Störung beinhalten. Das Individuum wird nicht isoliert betrachtet, sondern als Bestandteil eines Systems. Daher sind auch therapeutische Maßnahmen nicht auf die von der psychisch erkrankten Person beschränkt.

Stattdessen bezieht der Therapeut neben den Patienten auch das System ein, in welches dieser eingebettet ist. Dabei handelt es sich in der Regel um die Familie, wo auch die Therapie ansetzt und stattfindet. Dazu besucht der Therapeut selbst die Familie oder lässt die Familienmitglieder des Patienten in die Praxis kommen. Die therapeutische Arbeit findet hier mit mehreren Familienmitgliedern parallel statt.

Welches Bild hat der systemische Ansatz vom Menschen?

Das Individuum ist nicht das Problem, sondern die Gesellschaft.
Das Menschenbild des systematischen Ansatzes ist nicht auf das Individuum beschränkt, sondern bezieht das Umfeld ein. Es findet zudem eine Unterscheidung zwischen somatischer Ebene und psychischer Ebene sowie interaktionaler Ebene statt.

Die somatische Ebene bezieht sich auf alle körperlichen Prozesse, wie den Hormonhaushalt, neuronale Verknüpfungen, die physische Verfassung und mehr. Das selbstreflexive Bewusstsein eines Menschen ist auf der psychischen Ebene anzusiedeln. Hierin enthalten sind Wahrnehmungen, Gedanken oder Bewertungen und das Selbstkonzept.

Auf interaktionaler Ebene spielt sich das menschliche Zusammenleben ab. Hier finden sich alle Systeme, die bei der Behandlung des Patienten einbezogen werden. Im systematischen Ansatz herrscht die Annahme vor, dass diese (gesellschaftlichen) Systeme nicht korrekt funktionieren und sich diese Schwierigkeiten auf das Individuum übertragen.

Das Individuum soll respektiert und unvoreingenommen vom Therapeuten behandelt werden. Dieser soll die Gründe für das Verhalten seines Patienten verstehen und muss daher auch aufrichtiges Interesse an dessen Problematik haben. Immerhin führen bestimmte Strukturen zu dem problematischen Verhalten und diese Strukturen muss der Therapeut ausfindig machen.

Eine wertschätzende Haltung gegenüber dem Individuum und dessen System ist ebenfalls eine Aufgabe des Therapeuten. Doch selbst bei Erfüllen dieser Voraussetzung kann sich die systemische Therapie als problematisch gestalten.

Eine gute Gesprächsführung ist unabdingbar für den Erfolg der Intervention. Doch auf Seiten des Patienten kann es hier zu Schwierigkeiten kommen. Die Kommunikation funktioniert nämlich nur, wenn der Patient über ein bestimmtes Alter verfügt und die emotionalen sowie kognitiven und intellektuellen Voraussetzungen mitbringt.

Auch emotionale Barrieren müssen im Laufe der Therapie überwunden werden. Hier kann es zum Beispiel bei Kindern kompliziert werden, da sie ihren Familien gegenüber in der Regel eine große Loyalität zeigen. Mit anderen Worten: Kinder schützen ihre Familie, auch wenn diese ihnen schadet.

Welche Grundannahmen hat der systemische Ansatz?

Es besteht eine wechselseitige Beeinflussung zwischen Individuum und gesellschaftlichen Systemen.
Die Grundannahmen der systemischen Ansätze beruhen auf demselben Gedanken: Wir sind Teil verschiedener Systeme und interagieren mit diesen. Wir leben und handeln innerhalb von sozialen Netzwerken.

Diese haben einen Einfluss auf die Entwicklung des Individuums und gleichzeitig beeinflusst das Individuum sein soziales Umfeld. Dabei nimmt das Individuum unbewusst Verhaltensmuster auf. Diese Muster werden meistens von den Beteiligten nicht erkannt, werden jedoch durch unausgesprochene Regeln von ihnen ausgeführt.

Die Ursachen und die Lösungen für psychische Probleme sollten dem systemischen Ansatz nach daher auch in der Interaktion mit dem sozialen Umfeld gesucht werden. Die Störungen werden nicht auf das betroffene Individuum beschränkt, sondern als Resultat nicht mehr funktionierender Muster im Verhalten und der Interaktion mit den Mitmenschen gesehen.

Durch die Arbeit mit dem Therapeuten sollen diese Muster innerhalb eines Systems aufgedeckt werden. Wenn die Beteiligten sich der Muster und deren Folgen bewusst werden, können sie diese auch verändern und so selbst die Störungen auflösen.

Welches sind die Vertreter des systemischen Ansatzes?

Der systemische Ansatz führte zu einer Erweiterung des klassischen Kausalitätsprinzips.
Die Methoden des systemischen Ansatzes haben mittlerweile auch Einzug in andere psychologische Richtungen gehalten. So nutzt die Verhaltenstherapie zum Beispiel verstärkt das Selbstregulationssystem.

Damit ist eine hierarchische Anordnung von individuellen Plänen, Regeln und Erwartungen gemeint, welche sich im Laufe des Lebens entwickeln. Von Vorteil ist die interaktive Zusammenarbeit zwischen dem Therapeuten und dem Patienten. Letzterer wird nicht auf innere Konflikte, Lernerfahrungen oder unausgeglichene Triebe reduziert. Stattdessen wird der gesamte Prozess des Zustandekommens einer Symptomatik vor dem Hintergrund der verschiedenen Systeme durchleuchtet.

Da sich der systemische Ansatz aus verschiedenen Ansätzen zusammengeschlossen hat, beinhaltet diese psychologische Richtung auch verschiedene Techniken. Diese wurden jeweils von unterschiedlichen Personen konzipiert und bis heute weiterentwickelt.

Ein Beispiel hierfür ist die sogenannte Familienskulptur. Entwickelt wurde dieses Konzept in den 1970er Jahren von der Psychologin Virginia Satir. Es wurde vor allem in der Familientherapie angewendet. Diese Methode sieht vor, dass sich die einzelnen Familienmitglieder des Patienten in einem Raum wie menschliche Skulpturen aufstellen. Die Anordnung spiegelt ebenfalls die emotionale Nähe der Mitglieder zueinander wider.

Außerdem sollen für die jeweiligen Personen typischen Haltungen, Äußerungen und die individuelle Mimik dargestellt werden. Der Patient kann so die zwischenmenschlichen Verhältnisse in seinem eigenen Familiensystem aus der Beobachterperspektive wahrnehmen. Dadurch soll er ein Verständnis für die Beziehungsstrukturen entwickeln und durch den Einbezug und das Feedback seiner Familie Selbstreflexion üben.

Paul Watzlawick war an der Entwicklung der „paradoxen Intervention“ beteiligt. Dabei handelt es sich um eine psychotherapeutische Maßnahme, die auf den ersten Blick widersprüchlich zu den Therapiezielen ist. Dabei wird die Störungsursache zur Verhaltensänderung verschrieben. Zum Beispiel kann einer Familie nach einer ausführlichen Beratung dazu geraten werden, sich nicht zu verändern. Praktiziert wurde diese Methode hauptsächlich von Selvini Palazzoli.

Ein anderes Beispiel kann bei der Behandlung von Suchterkrankungen angewendet werden. Befindet sich eine an Alkoholsucht leidende Person in einer Beziehung mit einem kontrollierenden Partner, könnte dem Erkrankten das gemeinsame Trinken mit dem Partner verordnet werden. Voraussetzung ist dabei, dass der gesunde Partner immer mehr getrunken haben muss als der erkrankte. Dabei muss der Erkrankte das eigene Verhalten und das seines Partners kontrollieren.

Ein weiteres Interventionskonzept von Watzlawick ist das Reframing. Hierbei soll durch eine Umdeutung beziehungsweise eine Neubewertung des psychischen Problems eine neue Perspektive auf dieses geschaffen werden. Diese bietet andere Möglichkeiten für den Umgang mit etwa einer ungewünschten Verhaltensweise.

Eine andere Methode des systemischen Ansatzes ist das „Reflecting Team“. Hierbei sitzen sich nicht nur Patient und Therapeut gegenüber, sondern es sind auch Co-Therapeuten anwesend. Diese beobachten die Sitzung und geben anschließend ein Feedback zum Gesehenen ab. Auf diese Weise werden mehrere therapeutische Perspektiven eingebracht und Einseitigkeit wird vermieden. Entwickelt wurde diese Interventionsmaßnahme vom norwegischen Sozialpsychiater Tom Andersen.

Die Familie als wichtiges System

Familienstrukturen bewirken Schäden und diese erhalten die Strukturen aufrecht.
Die Familie ist die erste Instanz der Sozialisation, die wir erfahren. Wir wachsen mit bestimmten Mustern auf, die wir nicht hinterfragen. Häufig allein deshalb nicht, weil wir uns ihrer nicht bewusst sind.

Nach systematischer Annahme entstehen psychische Probleme oder Störungen durch dysfunktionale Muster der Interaktion und Kommunikation innerhalb des Familiensystems. Dabei hält die Störung bestimmte Strukturen und Muster aufrecht.

Innerhalb der Therapie sollen Patienten diese schädlichen Muster erkennen und so auflösen können. Die Sicht des Therapeuten setzt an dieser Stelle nicht am Defizit an, sondern fokussiert sich auf die Frage:

Welchen „Sinn“ hat dieses Problem?

Das Problem ist immerhin nur das Resultat eines ungesunden Musters und muss daher einen Zweck erfüllen. Menschen passen sich ihrer Umwelt an, auch wenn das für sie mit Leid einhergeht.

Ein Beispiel ist die Behandlung eines Mädchens mit Essstörungen. Im Therapieverlauf stellt sich heraus, dass der Grund für ihr gestörtes Essverhalten bei den Eheproblemen ihrer Eltern liegt. Angesichts einer drohenden Scheidung entwickelte das Mädchen eine Essstörung, welche ihre Eltern aus Sorge um ihr Kind wieder etwas näher zusammenbrachte.

Die sozial-ökologische Perspektive

Einzelne Systeme wirken direkt oder indirekt auf andere Systeme.
Ein Modell der verschiedenen Systemebenen stammt vom Entwicklungspsychologen Urie Bronfenbrenner.

Diese Ebenen oder Systeme beziehen sich jeweils auf ein anderes soziales Netzwerk. Die Individualebene beschreibt das erste System. Dieses bezieht sich auf das Individuum, welches in mehrere Sozialsysteme eingebettet ist. Darüber steht die Mikroebene. Dieses System umfasst zum Beispiel die Familie, den Freundeskreis oder auch Klassenverbände.

Eine weitere Ebene beinhaltet verschiedene Organisationen. Damit sind etwa Schulen, Vereine, Arbeitsplätze und religiöse Gruppen gemeint. Die Ebene der Organisationen beinhaltet die Mikrosysteme und die darin enthaltenen Individuen.

Ihrerseits unterstehen die Organisationen der Ebene der lokaladministrativen Gemeinden. Das umfasst beispielsweise Dörfer, Städte oder auch Nachbarschaften. Alle bisherigen Ebenen sind im übergeordneten Makrosystem verortet. Dieses beinhaltet ganze Gesellschaften, Kulturen, Regierungen, die Medien und soziale Bewegungen.

Die Nähe eines Systems zum Individuum spielt hier eine Rolle. Je näher sich die Mitglieder der jeweiligen Systeme stehen, desto mehr Kontaktmöglichkeiten gibt es und desto mehr Einfluss haben die verschiedenen Parteien aufeinander.

Der Einfluss einer Systemebene auf die nächsthöhere oder nächstniedrigere (zum Beispiel vom Mikrosystem auf das Individualsystem) ist hierbei ein direkter. Einflüsse von weiter entfernten Systemen können über andere Systemebenen auf die nächste vermittelt werden. So kann beispielsweise ein Umstand in der Makrosystemebene über die anderen Ebenen auf das Individuum Auswirkungen haben.

Stelle dir folgende Situation vor…
Im Makrosystem verschlechtern sich die wirtschaftlichen Bedingungen. Diese Verschlechterung überträgt sich auf die Unternehmen (Organisationsystem) und infolge dessen auch auf die Mikrosysteme (Familien). Die wirtschaftliche Situation innerhalb der Familie verschlechtert sich, was sich wiederum auf das Individuum auswirkt.

Die Folge davon kann eine Abnahme des psychosozialen Wohlbefindens bei Jugendlichen dieser Familien sein. Sie haben das Gefühl, ihre eigene Zukunft nicht mehr gestalten zu können und zeigen mehr depressive Symptome und Ängstlichkeit. In diesem Beispiel sind also die Jugendlichen trotz dieser Symptome nicht psychisch krank. Nach Auffassung des systemischen Ansatzes sind diese psychischen Probleme lediglich Resultate der Systeme, die hier ungünstig zusammenwirken.


Über den Autor

wissen
Folge Sciodoo und bleibe stets auf dem Laufenden. Schließ dich uns an und abonniere unseren Instagram-Kanal ein. Wir stellen täglich neue Artikel für dich rein.
Weiter zum Kanal>>>