Gedächtnis und Erinnern: Funktionsweise des Behalten, Reproduzieren, Wiedererkennen
Unser Gedächtnis macht uns zu dem, was wir sind. Es lässt uns auf Gelerntes zurückgreifen und uns den Alltag meistern. Doch kann uns diese Fähigkeit durch Verletzungen des Gehirns abhandenkommen. Um überhaupt erst einmal Erinnerungen abzuspeichern, müssen Reize aus der Umwelt aufgenommen werden. Diese werden anschließend verarbeitet und ins Langzeitgedächtnis übertragen.
Dies geschieht sowohl über bewusste als auch unbewusste Prozesse. Nach dem Abspeichern können wir Informationen reproduzieren und wiedererkennen. Je nach Erinnerungsart sind verschiedene Hirnbereiche beteiligt. Die wichtigsten Gedächtnisstrukturen sind der Frontallappen, der Hippocampus und das Kleinhirn sowie die Basalganglien und die Amygdala.
Inhalt
Was bedeutet der Begriff Gedächtnis?
Wir können uns glücklich schätzen, ein Gedächtnis zu haben. Zwar würdest du vielleicht negative und schmerzhafte Ereignisse gern aus deiner Erinnerung streichen. Oder du verfluchst manchmal sogar dein Gedächtnis, weil du schon wieder deinen Schlüssel nicht finden kannst. Doch sieh die Sache einmal so: Ohne dein Gedächtnis, könntest du nicht auf Gelerntes zurückgreifen.
Selbst, wenn es schmerzhafte oder traurige Erinnerungen sind – auch aus diesen lernst du. Du könntest ebenfalls nicht in positiven Erinnerungen schwelgen und nicht zuletzt wäre dein Alltag eine schier unüberwindbare Herausforderung. Wie könntest du dir etwas zu Essen machen oder mit dem Fahrrad beziehungsweise Auto zur Schule, Uni oder Arbeit fahren? Du könntest dich nicht an Stimmen, Gesichter oder Orte erinnern. Du wärst sowohl hilf- als auch orientierungslos.
Das Gedächtnis umfasst alles, was wir im Laufe unseres Lebens gelernt haben. Es ist also ein gigantischer Speicher an Informationen jeglicher Art. Dieser Speicher ermöglicht uns das langfristige Ablegen und Abrufen von Erinnerungen.
Erinnerungen sind nicht immer von Dauer
Wenn das Gedächtnis uns im Stich lässt, verlieren wir zusätzlich ein Stück unserer Persönlichkeit. Verletzungen des Gehirns oder zum Beispiel auch ein Schlaganfall können dazu führen, dass frühere Erinnerungen vergessen werden (retrograde Amnesie) oder neue Informationen nicht mehr abgespeichert werden können (anterograde Amnesie).
So kann es nach einem Unfall etwa dazu kommen, dass der Patient sich an frühere Episoden seines Lebens nicht mehr erinnern kann. Oder andersherum: Wird das Gedächtnis im Zuge eines Schlaganfalls in Mitleidenschaft gezogen, kann sich der Patient vielleicht noch perfekt an seine Vergangenheit erinnern. Doch neue Ereignisse vergisst er direkt wieder. Selbst tiefgreifende Ereignisse werden nicht abgespeichert – zum Beispiel der Tod eines Angehörigen. Kann ein Mensch keine neuen Informationen mehr abspeichern (und dementsprechend auch nicht abrufen), trifft ihn die Information über das Ableben des Verwandten jedes Mal aufs Neue.
Wie funktioniert das Gedächtnis: Zusammenhang zwischen Behalten, Reproduzieren und Wiedererkennen
Es wäre zu einfach, sich das Gedächtnis wie eine Art Bibliothek vorzustellen. Unsere Erinnerungen sind nicht mit Kürzeln ausgestattet und in „mentale Regale“ eingeordnet. Bücher in Bibliotheken haben jeweils einen festen Platz. Mit Erinnerungen verhält es sich anders. Unser Gehirn arbeitet weniger geordnet, sondern viel mehr als Netzwerk. In Bezug auf unser Gedächtnis (sowie auch bei anderen geistigen Prozessen) interagieren und kommunizieren verschiedene Teile des Gehirns miteinander.
Informationen behalten
Eine typische Modellvorstellung über das Behalten von Informationen ist mit mehreren Ebenen verbunden. Über die Sinnesorgane werden zunächst sensorische Reize aufgenommen. Prozesse der Aufmerksamkeit sortieren anschließend aus, welche Information an das Kurz- beziehungsweise Arbeitsgedächtnis weitergeleitet wird. In diesem Bereich werden die Informationen beibehalten und/oder in das Langzeitgedächtnis überführt.
Bewusste Verarbeitungsprozesse
Bei der Aufnahme von neuen Informationen finden sowohl unbewusste als auch bewusste Prozesse statt. Manche Reize gelangen direkt nach deren Wahrnehmung in das Langzeitgedächtnis. Diese werden unbewusst abgespeichert. Andere kommen nur bewusst und über Umwege in den Langzeitspeicher.
Dabei gibt es verschiedene bewusste Verarbeitungsprozesse, die uns beim Erinnern helfen. Eine davon ist das Chunking. Dabei ordnen wir viele Informationseinheiten – auch Items genannt – zu überschaubaren Gruppen, um sie uns leichter zu merken. Ein Beispiel für Chunking ist das Merken von Telefonnummern. Es fällt den meisten einfacher, sich eine neunstellige Nummer zu merken, wenn sie diese in drei Bereiche (Chunks) mit je drei Ziffern unterteilen.
Auch das Bilden von Hierarchien kann nützlich sein. So kann man sich bestimmte Fakten besser merken, wenn man diese in eine Kategorie einordnen kann, welche vielleicht noch eine oder mehrere Oberkategorien über sich hat. Das verleiht einer Flut an Informationen Struktur und man behält einen Überblick. Außerdem lässt sich das erworbene Wissen leichter abrufen, wenn man die Informationen in einem größeren Zusammenhang verorten kann.
Um ums erinnern zu können, müssen wir Informationen abspeichern. Doch wie behalten wir Dinge im Gedächtnis? Entscheidend für das Speichern von Informationen sind bestimmte Bereiche des Gehirns. Dazu zählen beispielsweise der Frontallappen, der Hippocampus sowie das Kleinhirn und die Basalganglien. Auch der Amygdala kommt eine Rolle beim Gedächtnis zu. Besonders dann, wenn es um emotionale Inhalte geht. Auf die unterschiedlichen Bereiche des Gehirns gehen wir weiter unten im Text noch genauer ein.
Informationen reproduzieren
Reproduzieren meint den Abruf von Information. Erlerntes Wissen befindet sich nicht die ganze Zeit über in unserem Bewusstsein. Doch haben wir etwas erst einmal im Gedächtnis abgespeichert, dann können wir sie zu gegebener Zeit wieder abrufen. Das ideale Beispiel dafür ist eine Prüfung. Du hast vor dem Prüfungstermin tagelang gelernt. Doch in der Zeit zwischen den einzelnen Lerneinheiten schwirren dir die Informationen trotzdem nicht ununterbrochen im Kopf herum. Dennoch kannst du die gelernten Informationen abrufen, während du dir die Fragen in der Prüfung durchliest.
Besser erinnern durch Priming
Der Abruf von Erinnerungen kann durch bestimmte Reize unterstützt werden. Sagen wir, du bist bei der Enkodierung beziehungsweise Speicherung von Informationen mit einem bestimmten Geruch konfrontiert. Vielleicht hast du eine Duftkerze auf dem Schreibtisch stehen und hast beim Lernen einen Vanillegeruch in der Nase.
Wenn du nun in der Klausur das Gelernte besser abrufen möchtest, kann dir der Vanillegeruch dabei helfen. Sind Erinnerungen etwa mit Gerüchen oder Geschmäckern verknüpft, können wir schneller auf sie zugreifen. Assoziationen stellen gute Abrufhilfen dar und bahnen sozusagen den Zugriff auf die Informationen. Daher spricht man in diesem Zusammenhang auch von Priming.
Ähnlich ist es beim kontextabhängigen Lernen. Die Umgebung kann als Prime dienen und den Abruf erleichtern. Das zeigten zum Beispiel Godden und Baddeley in einer Studie aus dem Jahr 1975. Dabei hörten Taucher eine Liste von Wörtern, an die sie sich später erinnern sollten. Der Lernkontext unterschied sich dabei in zwei Bereiche: Entweder prägten sich die Taucher die Wörter unter Wasser ein oder an Land. Hatten sie die Wörter an Land gehört, konnten sie sich auch an mehr Wörter erinnern – sofern sie an Land danach gefragt wurden. Lernten sie die Listen unter Wasser, konnten sie anschließend besser im Wasser die Wörter abrufen als an Land.
Informationen wiedererkennen
Beim Wiedererkennen können wir zuvor erlernte Informationen identifizieren. Auch hier können wir zum Beispiel der Prüfung greifen. Während du bei offenen Fragen auf den Abruf beziehungsweise die Reproduktion der Informationen angewiesen bist, geht es bei Multiple-Choice-Aufgaben lediglich um das Wiedererkennen von Informationen. Hierbei werden dir in Bezug auf eine Frage zum Beispiel vier Antwortoptionen gegeben, von denen mehrere richtig sein können. Du musst also wiedererkennen, welche Aussagen thematisch zu der Frage passen.
Das Modell des expliziten und impliziten Gedächtnis
Unser Gedächtnis lässt sich grob in zwei Systeme unterteilen: Das explizite und das implizite Gedächtnis.
Explizites Gedächtnissystem
Mit diesem System werden der Frontallappen und der Hippocampus in Verbindung gebracht. So werden aus verschiedenen Hirnregionen Informationen an den Frontallappen geschickt, wenn du dich an etwas erinnerst. Je nach Seite des Frontallappens sind unterschiedliche Erinnerungen verknüpft. Die linke Hälfte dieser Hirnregion wird aktiviert, wenn du dich zum Beispiel an deine PIN für den Bankautomaten erinnern willst. Denkst du bildhaft an deinen letzten Urlaub zurück, schaltet sich hingegen eher die rechte Seite ein.
Im limbischen System befindet sich noch eine weitere Struktur, die an expliziten Erinnerungen beteiligt ist: der Hippocampus. Dieser ist zudem für die endgültige Abspeicherung von Informationen im Langzeitgedächtnis zuständig. Kommt es in dieser Region zu Verletzungen, können Menschen sich häufig nicht mehr an verbale Informationen erinnern. In Bezug auf visuelle Erinnerungen haben sie jedoch keine Gedächtnisprobleme.
Das trifft allerdings nur dann zu, wenn die linke Hälfte des Hippocampus beschädigt wurde. Bei Verletzungen der rechten Seite ist es umgekehrt. Doch der Hippocampus lässt sich noch in weitere funktionelle Bereiche unterteilen. So ist ein bestimmter Teil für das Wiedererkennen von Personen zuständig. Genauer gesagt für die Verknüpfung von Namen und Gesichtern. Der Hippocampus ist allerdings nicht als Langzeitspeicher anzusehen, sondern eher als Zwischenspeicher für Erinnerungen.
Implizites Gedächtnissystem
Das Zerebellum oder auch Kleinhirn ist eine Region, welches für Bewegungsabläufe zuständig ist. Allerdings ist es auch in das Bilden und Speichern von impliziten Erinnerungen involviert.
Zu impliziten Gedächtnisinhalten gehören unter anderem einstudierte Bewegungsabläufe oder konditioniertes Verhalten. Daher spielt das Kleinhirn hier eine Rolle. Unter Konditionierung ist eine erlernte Reiz-Reaktion-Abfolge zu verstehen. Das typische Beispiel dafür ist der Pawlowsche Hund. Der Forscher Iwan Pawlow entdeckte eher durch Zufall, dass der Speichelfluss seines Hundes schon beim Läuten einer Glocke vor dem Fressen einsetzte und nicht erst beim direkten Anblick des Futters. Der Hund hatte das akustische Signal mit dem eigentlich reaktionsauslösenden Reiz verbunden. Einmal konditionierte Reiz-Reaktions-Ketten landen im impliziten Gedächtnis.
Bewegungsabläufe können daher auch trotz Amnesie erinnert werden. Zu einem retrograden oder anterograden Gedächtnisverlust kommt es zum Beispiel durch eine Verletzung des Hippocampus. Da Bewegungen jedoch im Kleinhirn verortet sind, können Menschen mit einer Amnesie trotzdem neue Bewegungsabläufe einüben und diese später erneut abrufen – obwohl sie sich nicht daran erinnern können, dass und wann die diese Bewegungen gelernt haben. In Bezug auf Bewegungen spielen die Basalganglien allerdings auch eine Rolle. Sie waren beispielsweise dafür verantwortlich, dass du Fahrradfahren gelernt hast.
Emotionen beeinflussen die Verarbeitung unserer Erinnerungen
Wenn wir gestresst sind, sendet unser Körper Stresshormone aus. Diese beeinflussen die Gedächtnisbildung. Diese Hormone führen zu einer Freisetzung von Glukose, welche die Hirnaktivität ankurbelt. Das Gehirn bekommt jetzt das Signal: Achtung, es passiert etwas Wichtiges! Die Amygdala wird aktiv. Diese Struktur ist mit Emotionen und vor allem mit Angst assoziiert. Prompt wird eine Gedächtnisspur in Basalganglien und Frontallappen angelegt. Aus diesem Zusammenspiel ergeben sich besonders gefestigte Erinnerungen. Im schlimmsten Fall kommt es zu Traumata.
Denn je stärker die emotionale Erfahrung war, desto stärker wird auch die Erinnerung daran. Im Umkehrschluss bedeutet das allerdings auch, dass schwache Emotionen eher schwache Erinnerungen produzieren. Dass Emotionen und die damit verbundenen Hormone eine starke Wirkung auf das Gedächtnis haben, kennst du vermutlich aus eigener Erfahrung. Besonders schmerzliche Erlebnisse scheinen besonders fest im Gedächtnis verankert zu sein. Zum Beispiel der Tod eines dir nahestehenden Menschen. Doch auch positive Ereignisse wie der erste Kuss sitzen sehr tief in der Gedächtnisstruktur.
Erinnerungen sind wandelbar
Die Erinnerungen an besonders einprägsame oder schockierende Erlebnisse werden auch „flashbulb memorises“ beziehungsweise Blitzlichterinnerungen genannt.
Ein Beispiel dafür ist die subjektive Erinnerung daran, was man gerade getan hat oder wo man war, als einen die Nachricht über die Terroranschläge am 11. September 2001 erreichten. Allerdings wurde durch Langzeitstudien mittlerweile nachgewiesen, dass die Sicherheit der Erinnernden nicht mir der Korrektheit der Erinnerung übereinstimmt. Denn je häufiger wir ein Erlebnis abrufen und mit anderen diskutieren, desto fehlerhafter wird die Erinnerung. Denn bei jedem Mal fügen wir ihr ein paar Details hinzu oder greifen unwissentlich Informationen von anderen auf, welche die ursprüngliche Erinnerung ein wenig verändern.