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Kritik zum Kritischen Rationalismus und dessen Falsifikationsprinzip


Der Kritische Rationalismus ist ein wissenschaftstheoretischer Ansatz, auf dem das quantitative Paradigma aufbaut. Dieses Paradigma geht in der Forschung theoriegeleitet vor. Das bedeutet, dass zu Beginn eines Forschungsprozesses eine Theorie steht, welche anhand von gesammelten Daten überprüft werden soll.

Karl Popper war der Hauptvertreter des Kritischen Rationalismus und ging davon aus, dass Theorien nie hundertprozentig bewiesen werden können. Theorien bilden aus seiner Sicht nicht die Realität ab, sondern stellen nur Vermutungen über diese dar.

Popper zufolge können Theorien durch die für sie sprechenden Daten also nicht bewiesen, jedoch vorläufig bestätigt werden. Dem Erkenntnisgewinn bringt das allerdings nicht wirklich viel, da nur ein Hinweis auf die Gültigkeit der Theorie vorliegt. Ein Hinweis ist jedoch eben noch kein Beweis. Die Falsifikation ist Poppers Ansicht nach ein wichtigeres Instrument des Erkenntnisgewinns.

Eine Theorie gilt als falsifiziert, wenn sie durch empirische Daten widerlegt wurde. Diese Erkenntnis gilt als sicher und trägt zur Wissensbildung bei. Doch wie alles ist auch dieser Ansatz kritisch zu hinterfragen, wenn man ein Verständnis für wissenschaftliche Vorgänge erlangen möchte. Die Grenzen des Kritischen Rationalismus sehen wir uns deshalb im Folgenden etwas genauer an.

Werden Entdeckungszusammenhänge im kritischen Rationalismus vernachlässigt?

Dem Kritischen Rationalismus fehlen Regeln zur Theoriebildung.
Das Forschungsvorgehen ist durch den Kritischen Rationalismus klar geregelt. Im quantitativen Forschungsprozess müssen aus Theorien prüfbare Hypothesen abgeleitet werden.

Zum Beispiel…
Sollte eine Theorie zum Zusammenhang zwischen Tageslicht und Leistungsfähigkeit von Büroangestellten vorliegen, könnte daraus folgende Hypothese abgeleitet werden: Eine höhere Anzahl von Fenstern geht mit einer gesteigerten Leistungsfähigkeit einher.

Um das zu prüfen, könnten Forscher ein Experiment durchführen, bei dem sie zwei zufällig gewählte Gruppen dieselben Tests zur Leistungsfähigkeit durchführen lassen. Der einzige Unterschied wäre der Ort der Testdurchführung. Die Experimentalgruppe würde die Tests in einem hellen, mit Fenstern versehenen Raum durchführen. Die Kontrollgruppe hingegen nimmt in einem fensterlosen Raum an den Tests teil, welcher nur mit künstlichem Licht erhellt wird.

Anschließend würden die Testergebnisse der beiden Gruppen miteinander verglichen werden. Zeigt die Experimentalgruppe bessere Ergebnisse als die Kontrollgruppe, könnte man die Hypothese als bestätigt sehen. Das würde die Theorie noch nicht beweisen, allerdings würde das Ergebnis die Theorie stützen.

Die Theorie würde demnach gestützt werden. Allerdings könnten sich durch diesen Prozess niemals neue, vielleicht bessere, Theorien finden bzw. ableiten.

Grenzen des kritischen Rationalismus: Ideen folgen keinen vorgegebenen Regeln

Die Findung neuer Theorien ist ein etwas vernachlässigter Punkt im Kritischen Rationalismus.
Wie die Forschung im Detail stattfinden muss, welche Messinstrumente verwendet werden und wie die Datenauswertung und -interpretation abzulaufen haben, wird durch den Kritischen Rationalismus festgehalten.

Allerdings gibt dieser nicht vor, wie die Theorien überhaupt zustande kommen sollten. Vermutlich kennst du Anekdoten bestimmter Forscher, denen Ideen für Theorien im Traum oder unter der Dusche gekommen sein sollen. Nach einer regelgeleiteten Herleitung im Sinne des Kritischen Rationalismus klingt das natürlich nicht und würde demnach verworfen werden.

Vorschläge zur Theoriefindung macht dieser mittlerweile allerdings trotzdem. So können neue Theorien durch die Weiterentwicklung bereits bestehender Theorien entstehen. Auch eine Variation der Forschungsmethoden kann zu neuen Forschungsfragen verhelfen und somit Denkanstöße für neue Theorien liefern.

Alltagsbeobachtungen liefern ebenfalls Impulse für neue theoretische Ansätze. Doch wie dir vermutlich schon aufgefallen ist, hat auch das wenig mit regelgerichteten Vorgehensweisen zu tun.

Sinnvolle Ergänzungen zum kritischen Rationalismus

Neben dem quantitativen Paradigma, in welchem der Kritische Rationalismus verortet ist, gibt es noch das qualitative und das Mixed-Methods-Paradigma.

Das qualitative Paradigma sattelt das Pferd von hinten auf: Statt theoriegeleitet Daten zu sammeln, um damit eine Hypothese beziehungsweise die dahinterstehende Theorie zu prüfen, werden hier Theorien anhand von Beobachtungen gebildet.

Das Mixed-Methods-Paradigma verbindet die Methoden der anderen beiden Paradigmen in sich. Zusammen mit dem qualitativen Ansatz kann dieses mittels erhobener Daten Ideen für neue Theorien liefern. Ohne eine gewisse Vorstellung über einen Sachverhalt zu haben, kann man in den Daten dazu unter Umständen bestimmte Muster finden.

Diese Muster wären bei einer theoriegeleiteten Suche vielleicht gar nicht aufgefallen. Mit Hilfe der so gefundenen Muster entstehen neue Theorien, die mithilfe der Methoden des quantitativen Paradigmas überprüft werden können. Eine qualitative Theoriefindung kann also als Anknüpfungspunkt für das quantitative Paradigma werden. Die qualitativ entwickelten Theorien können im Anschluss mit quantitativen Forschungsmethoden geprüft werden.

Existieren überhaupt soziale Gesetzmäßigkeiten laut dem kritischen Rationalismus?

Im Kritischen Rationalismus herrscht das Prinzip der Einheitswissenschaft vor.
Darunter versteht man die Annahme, dass sowohl in den Natur- als auch in den Sozialwissenschaften dieselben Gesetzmäßigkeiten vorliegen.

Diese Gesetze sind allgemeingültig und dienen nicht nur der Beschreibung und Erklärung von Sachverhalten, sondern ermöglichen auch Vorhersagen beziehungsweise Prognosen über künftige Geschehnisse. In der Psychologie wäre das beispielsweise ein bestimmtes Verhalten, dass durch bestimmte Faktoren verursacht wird und demzufolge auch immer wieder genauso auftreten müsste. Damit können etwa Vorhersagen über den Erfolg von verschiedenen Therapiemaßnahmen gemacht werden.

Allerdings stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob das menschliche Erleben und Verhalten überhaupt solchen objektiven Gesetzen unterliegt. Der Mensch ist immer hin kein mechanisches Wesen, das auf die gleichen Reize in derselben, wiederkehrenden Weise reagiert. Daher ist eine Erforschung der subjektiven Beweggründe ebenso wichtig für das Verständnis der menschlichen Psyche. Theorien können zwar allgemein eine Tendenz über das menschliche Verhalten und Erleben erlauben, doch die theoretischen Regeln legen das menschliche Handeln und Denken nicht fest.

Ist eine objektive Haltung von Wissenschaftlern möglich und nützlich?

Der Kritische Rationalismus verwirkt potenzielle Chancen der Subjektivität.

Das heißt…
Dass der quantitative Ansatz beinhaltet, dass der Forscher während der Untersuchungen eine möglichst neutrale und objektive Stellung einnehmen soll. Nur so kommen Daten in einer Studie zustande, die mit denen anderer Studien vergleichbar sind. Subjektivität würde ein Ergebnis verfälschen und muss verworfen werden.

Allerdings ist hier anzumerken, dass Forscher nie vollkommen neutral agieren können. Selbst das Wissenschaftssystem ist von politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen beeinflusst und auch die Forscher vertreten individuelle Werte und Ansichten. Diese können sie nicht einfach beim Betreten des Labors automatisch abschalten.

Im Gegensatz dazu geht das qualitative Paradigma davon aus, dass die Erfahrungen und Einstellungen des Forschenden einen positiven Einfluss auf die Forschung haben. Hier soll in vielen Fällen sogar Partei für Minderheiten ergriffen werden, um deren Lebensumstände mit Hilfe der Forschung gezielt zu verbessern.

Statt Neutralität soll hier Empathie eine Rolle spielen. Doch demgegenüber steht wiederum der Kritische Rationalismus mit der Einstellung, dass politische Interessen in der Wissenschaft nichts verloren haben. Es soll ausschließlich um einen Gewinn von Erkenntnissen gehen. Hier stehen sich der quantitative und der qualitative Ansatz in gesellschaftlich-ethischen Fragen gegenüber.

Wie groß ist die Lücke zwischen Wissenschaftstheorie und -praxis innerhalb des kritischen Rationalismus?

Zwischen Theorie und Praxis besteht bekanntermaßen häufig eine Kluft.
Der Kritische Rationalismus macht klare wissenschaftstheoretische Vorgaben, wie der quantitative Forschungsprozess abzulaufen hat. Allerdings liegen in der Praxis oftmals Bedingungen vor, die eine Umsetzung dessen erschweren.

Das können etwa politische Einflüsse sein, allerdings auch forschungsökonomische. Die Studiendesigns müssen zeitlich und finanziell realisierbar sein. Beiden sind allerdings häufig Grenzen gesetzt. Das Gleiche gilt auch für verfügbares Fachpersonal.

Popper postulierte, dass Theorien bei Falsifikation verworfen werden sollten. Allerdings muss ein hypothesenkonträres Ergebnis noch lange kein Garant für die Ungültigkeit einer Theorie sein. Denn es könnten verschiedene Faktoren dafür gesorgt haben, dass die Daten gegen die Hypothesen sprechen.

  • Vielleicht war das Untersuchungsdesign unglücklich gewählt
  • oder das Messinstrument hat nicht einwandfrei funktioniert.
  • Vielleicht haben auch unvorhergesehene Störeinflüsse während des Experiments oder Auswertungsfehler bei der Datenanalyse das Ergebnis verfälscht.
  • Es könnte jedoch auch sein, dass die Forschungsmethoden zum Erhebungszeitpunkt einfach noch nicht ausgereift waren.

Statt einmal falsifizierte Theorien in der Mottenkiste verschwinden zu lassen, sollten verworfene Theorien immer wieder aufs Neue untersucht werden.

Kritisiert wird der Kritische Rationalismus dafür, dass er an seinen theoretischen Annahmen eisern festhält. Einige Kritiker merken an, dass erst das Brechen von Forschungsregeln eine Annäherung an die Forschungspraxis möglich macht. Nur so könnte herausgefunden werden, wie sich Wissenschaftstheorie und Praxis besser vereinen lassen.

Welche wissenschaftstheoretischen Ansätze fließen mittlerweile in das qualitative Paradigma ein?

Eine Reflexion und die Anwendung des Kritischen Rationalismus sind gar nicht so leicht.
Kritiker des klassischen Kritischen Rationalismus wenden ein, dass die theoretischen Annahmen und Vorgaben zu sehr auf der philosophischen Ebene verortet sind.

Ohne philosophische Fachkenntnisse könne ein Forscher recht wenig mit den wissenschaftstheoretischen Vorstellungen dieses Ansatzes anfangen. Stattdessen sollte der Kritische Rationalismus an die jeweilige Disziplin, wie etwa die Psychologie, angepasst und praxisbezogener gestaltet werden. Damit wäre auch die Umsetzung von der Wissenschaftstheorie in die -praxis eine unkompliziertere.

Probleme in der Wissenschaftspraxis weisen auch immer wieder auf die Umsetzungsschwierigkeiten hin. So ist es in der Psychologie leider die Regel, dass vor allem hypothesen- beziehungsweise theoriebestätigende Studien veröffentlicht werden. Denn theoriewidersprechende Ergebnisse vermarkten sich weniger gut und es fließen weniger Forschungsgelder.

Für Forschende besteht also ein gewisser „Publikationszwang“, auf welchen manchmal mit gefälschten Daten reagiert wird. Die Daten werden so manipuliert, dass das gewünschte Ergebnis erscheint. Durch fehlende Transparenz und ausbleibende Replikationsstudien halten sich die falschen Ergebnisse leider oft unbemerkt. Die Aufdeckung solcher Missstände führte in jüngster Vergangenheit zu einer Initiative, die mehr Replikationen fordert. Durch eine Konzentration auf Wiederholungsstudien sollen falsche Ergebnisse aufgedeckt werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Kritische Rationalismus und dessen Falsifikationsprinzip zwar äußerst wichtige Vorgaben für einen geregelten Forschungsablauf und sicheren Erkenntnisgewinn etabliert hat. Doch an der Umsetzbarkeit kann es an einigen Stellen hapern. Die wissenschaftstheoretischen Grundlagen müssen aufgrund dessen immer wieder vor dem Hintergrund aktueller Probleme in der Wissenschaftspraxis reflektiert und diskutiert werden.


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