Der kritische Rationalismus als Basis der Wissenschaftstheorie
Die Wissenschaftstheorie ist ein System theoretischer Vorüberlegungen, die sich unter anderem mit den Methoden der Forschung, der Funktion der Wissenschaft generell und auch den verschiedenen Forschungsparadigmen beschäftigt.
Die Paradigmen der Psychologie sind der quantitative, der qualitative und der Mixed-Methods-Ansatz. Sie alle leiten sich aus den Überlegungen der Wissenschaftstheorie ab, haben allerdings unterschiedliche Herangehensweisen in Bezug auf den Erkenntnisgewinn.
Während der qualitative Ansatz von Daten auf neue Theorien schließt, überprüft der quantitative Ansatz theoretische Annahmen mittels empirisch erhobener Daten. Beide generieren Wissen von verschiedenen Standpunkten aus, während der Mixed-Methods-Ansatz sowohl quantitative als auch qualitative Methoden im Forschungsprozess verwendet.
Um die Herangehensweisen der einzelnen Paradigmen besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die jeweiligen wissenschaftstheoretischen Annahmen. Die Forschungsmethoden des quantitativen Paradigmas lassen sich beispielsweise auf dem Kritischen Rationalismus gründen und diesen nehmen wir jetzt hier einmal etwas näher unter die Lupe.
Durch die folgenden Absätze erhältst du eine Vorstellung davon, wie dieser Ansatz die Realität sieht und welche Auswirkungen das auf die Forschung hat.
Inhalt
Was ist der Kritische Rationalismus?
Ohne Theorien können Daten nicht sinnvoll interpretiert werden und ohne Daten sind Theorien nicht prüfbar.
Der Kritische Rationalismus ist der führende Ansatz in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Das kannst du allein schon daran sehen, dass ein Großteil der veröffentlichten Studien auf quantitativer Forschung beruhen und diese stützt sich auf den Kritischen Rationalismus.
Doch was ist das quantitative Paradigma?
Dabei handelt es sich um einen Forschungsansatz, der theoriegeleitet vorgeht. Am Anfang eines quantitativen Forschungsprozesses steht eine Theorie, die es zu prüfen gilt. Um das umzusetzen, müssen zunächst Hypothesen abgeleitet werden.
Basierend auf diesen werden Daten standardisiert erhoben und deren Ergebnisse sprechen dann entweder für oder gegen die Hypothese. Bestätigen die Ergebnisse die Hypothese, gilt die Theorie ebenfalls als vorläufig bestätigt. Hypothesenkonträre Ergebnisse widersprechen demnach auch der Theorie, welche infolge dessen überarbeitet oder unter Umständen auch gänzlich verworfen wird.
Empirismus und kritischer Rationalismus
Was hat das jetzt mit dem Kritischen Rationalismus zu tun?
Der Ansatz des Kritischen Rationalismus geht auf Karl Popper zurück und liefert Vorgaben zur Formulierung und Prüfung von Theorien, welche den Ausgangspunkt der quantitativen Forschung darstellen.
Mit dem Kritischen Rationalismus schuf Popper in den 1930er Jahren einen Gegenentwurf zu dem damals noch vorherrschenden Empirismus beziehungsweise Positivismus. Dieser bediente sich induktiven Schlussfolgerungen in Bezug auf den Erkenntnisgewinn. Der Induktionsschluss nutzt Daten als Grundlage für die Theoriebildung.
Was sind induktive Schlussfolgerungen?
Im klassischen Beispiel des weißen beziehungsweise schwarzen Schwans bildest du aufgrund deiner Beobachtung eine Theorie. Du siehst nur weiße Schwäne und nimmst daher an, dass es auch nur weiße Schwäne gibt.
Laut Popper hat diese induktive Schlussfolgerung allerdings einen erheblichen Mangel: Theorien lassen sich empirisch nicht belegen, sondern nur widerlegen. Es ist schlichtweg nicht möglich, alle Schwäne der Welt auf ihre Farbe hin zu untersuchen. Genauso wenig kannst du wissen, ob alle Schwäne in der Vergangenheit weiß waren und alle Schwäne in Zukunft ebenfalls weiß sein werden.
Theorien lassen sich nicht beweisen, nur widerlegen
Popper ging davon aus, dass es nur durch das Widerlegen einer Theorie zum Fortschritt in der Erkenntnis kommen könne.
Das Prinzip der Verifikation (Belegen) sei nicht brauchbar und der Falsifikation (Widerlegen) unterlegen. Eine Theorie lässt sich nach Popper allein deshalb schon nicht belegen, weil die empirischen Daten nicht die Realität darstellen.
Auch eine Theorie ist nicht die Realität. Die Theorie ist nur eine Vermutung über die Realität und nicht zweifelsfrei zu beweisen. So sind die Daten nur als Hinweise auf die Realität zu verstehen. Sprechen die Daten einer Studie gegen die theoretischen Annahmen, sollte die Theorie abgelehnt werden. Sie wurde widerlegt beziehungsweise falsifiziert.
Sind die Daten allerdings hypothesenkonform, gilt die Theorie als vorläufig bestätigt. Sofern eine Theorie auch durch eine große Anzahl von Studien nicht falsifiziert wurde, gilt sie als bewährt.
Die Metapher vom Kübel und vom Scheinwerfer
Um die Gegensätzlichkeit von Kritischem Rationalismus und Positivismus zu verdeutlichen, nutzte Popper eine Metapher.
Den Erkenntnisgewinn im Positivismus beschrieb Popper als einen passiven Prozess. Er bezeichnete den menschlichen Verstand als einen leeren „Kübel“, welcher sich ohne aktives Zutun durch Erfahrungen mit neuen Erkenntnissen auffüllt. Unreflektiert landen alle Beobachtungen und induktiven Schlussfolgerungen daraus in diesem Kübel.
Der kritisch-rationale „Scheinwerfer“ hingegen steht für einen aktiven Prozess des Erkenntnisgewinns. Anstatt Wissen nur durch das passive Einfüllen neuer Informationen zu erlangen, findet ein aktives Forschen statt: Theorien werden gebildet, Hypothesen aus ihnen abgeleitet und mittels Datenerhebung überprüft.
Die statistisch berechneten Ergebnisse aus den erhobenen Daten lassen deduktive Schlussfolgerungen zu. Diese sprechen dann für oder gegen die theoretischen Annahmen, was mit einer Reflexion einhergeht. Es wird kritisch hinterfragt, ob eventuell Messfehler zu den Ergebnissen geführt haben oder ob die Theorie überarbeitet werden muss. Wurde die Theorie widerlegt, wird sie ausgesondert.
Die Wahrheitssuche im quantitativen Paradigma
Unsere Alltagsvorstellung von der Wirklichkeit ist eher vom Realismus geprägt.
Wir nehmen in der Regel an, dass die Realität dem entspricht, was wir wahrnehmen und auch ohne uns genauso existiert. Darin unterscheidet sich diese Vorstellung vom Idealismus. Dieser geht davon aus, dass die Wirklichkeit nur in unserem Bewusstsein entsteht. In unserer Alltagswahrnehmung gelten für uns mit der von uns angenommenen Realität übereinstimmenden Aussagen als „wahr“ und Abweichungen davon als „falsch“.
Allerdings ist die Wirklichkeit dem Kritischen Rationalismus zufolge ohnehin nicht zweifelsfrei zu beweisen. Theorien stellen bloß Vermutungen bezüglich der Realität dar und Irrtümer sind daher nie auszuschließen. Daher gilt auch die Annahme, dass ein Erkenntnisfortschritt nur durch die Falsifizierung entstehen kann.
Kritischer Rationalismus und Wahrheit
Auch wenn der Kritische Rationalismus die Vorläufigkeit des Wissens betont, findet dennoch eine Suche nach der Wirklichkeit beziehungsweise Wahrheit statt.
Dabei werden konkurrierende Theorien und deren Bewährung miteinander verglichen. Erkenntnissuche findet bei diesem Vergleich durch Versuch und Irrtum statt. Werden Theorien falsifiziert, findet ein Erkenntnisfortschritt statt. Denn man weiß nun, wie ein Phänomen nicht erklärt werden kann. Damit ist die Möglichkeit gegeben, weitere Theorien zur Erklärung der Wahrheit auf ihren Gehalt hin zu überprüfen.
Warum die Falsifizierbarkeit von theoretischen Annahmen von großer Bedeutsamkeit ist, wird im Vergleich mit religiösen oder politischen Ideologien klar. Denn diese schließen andere Denkweisen immer aus, wodurch diese Ideologien keinen Erkenntnisgewinn bzw. Fortschritt erwarten können.
Der Kritische Rationalismus erhebt keinen Anspruch auf eine unumstößliche Wahrheit. Er setzt auf vorläufiges Wissen, welches nie gänzlich bewiesen werden kann und birgt somit einen stetigen Fortschritt im wissenschaftlichen Prozess. Er bietet zudem die Möglichkeit orts- und zeitungebundener Vorhersagen, wird also von kulturellen oder historischen Faktoren nicht beeinflusst. Stattdessen sind seine Aussagen logisch-deduktiv ableitbar und mittels empirischer Daten zu überprüfen.
Die richtigen Formulierungen innerhalb des Kritischen Rationalismus
Die aus Theorien abgeleiteten Hypothesen müssen logisch und widerspruchsfrei formuliert sein, um überprüft werden zu können.
Die Formulierung muss demnach eine Falsifizierung zulassen. Das ist bei einigen Formulierungen nicht der Fall, wie folgende Beispiele zeigen sollen. Die Behauptung, dass „alle Heiligen bei Gott sind und sich bei ihm für die Gläubigen einsetzen“, ist nicht falsifizierbar. Sie entzieht sich jeglicher Beobachtungsmöglichkeit und erlaubt damit auch keine Datenerhebung.
Bestimmte Formulierungen wie „Es-gibt-Sätze“ oder „Kann-Sätze“ können ebenfalls nicht falsifiziert werden. So können Aussagen wie „Es gibt Kinder, die nie weinen“ ebenso wenig untersucht werden, wie „Vom Rauchen kann man Lungenkrebs kriegen“. Dazu gehören auch tautologische Formulierungen, die immer zutreffen. Auch das Beispiel „Kräht der Hahn auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist“ kann nicht falsifiziert werden. Denn unabhängig von den Umständen ist der Ausgang immer zutreffend.
Auf ihre Unumstößlichkeit beharrende Aussagen können ebenfalls nicht als Theoriegrundlage herangezogen werden. Im Alltag finden wir genügend Beispiele: Heilsversprechen, pseudowissenschaftliche Aussagen, religiöse oder politische Behauptungen, die keine Kritik an ihrer Unfehlbarkeit zulassen.
Der Kritische Rationalismus geht allerdings von einer immerwährenden Erkenntnissuche aus, in denen solche Behauptungen keinen Platz haben. Sie als wahr begründen zu wollen, ist zum Scheitern verurteilt.
Der Kritische Rationalismus und das Scheitern von Begründungen
Am eigenen Zopf samt Pferd eigenhändig aus dem Sumpf gezogen…
Woran die vergeblichen Beweisversuche der Unfehlbarkeit von Behauptungen scheitern, zeigt das Münchhausen-Trilemma der Wahrheitsbegründung.
Dieses geht auf die kuriosen Geschichten des Lügenbarons zurück. Das Trilemma beinhaltet drei argumentative Strategien. Diese sollen zwar von der Wahrheit einer Aussage überzeugen, sind allerdings nicht zielführend. Der infinite Regress beschreibt eine endlose Begründung der Wahrheit einer Aussage mit anderen Aussagen, die ebenfalls begründet werden müssen. Deren Begründungen brauchen ebenfalls Begründungen und so geht es immer weiter.
Man kann auch: Die Aussage ist nur dann wahr, wenn deren Begründung wahr ist. Und die Begründung ist nur dann wahr, wenn deren Begründung ebenfalls wahr ist. Und jene zweite Begründung muss begründet werden und gilt erst als wahr, wenn eine dritte Begründung sich als wahr erweist.
Daneben gibt es noch den logischen Zirkel. Die Begründung der Aussage steckt bereits in der Aussage selbst. Hierbei dreht sich die Argumentation ganz einfach im Kreis. Ein Beispiel wäre die Aussage „Er ist taub, weil er nicht hören kann – Er hört nichts, weil er taub ist“.
Die dritte Strategie ist der Abbruch des Verfahrens. Hier greift ein dogmatisches Prinzip, weil dem Argument einfach ab einem bestimmten Zeitpunkt geglaubt werden soll. Die Argumentation bricht irgendwann mit der Begründung ab, dass das letzte Argument schlichtweg nicht weiter hinterfragt werden darf.
Warum ist kritischer Realismus besser als naiver Realismus?
Unser Alltagsempfinden geht auf einen naiven Realismus zurück.
Das heißt, wir nehmen ganz natürlich eine unabhängig von unserem Bewusstsein existierende Realität an. Auch der Kritische Rationalismus ist ähnlicher Auffassung. Allerdings handelt es sich in seinem Fall um einen kritischen Realismus.
Der Kritische Rationalismus geht nämlich davon aus, dass die im Zuge des Forschungsprozesses erhobenen Daten kein exaktes Abbild der Realität darstellen. Stattdessen sind diese im Forschungsprozess konstruierte Beschreibungsversuche der Wirklichkeit, die von den Annahmen der zugrundeliegenden Theorie gefärbt sind.
Die Theorie erschafft somit die Wirklichkeit.
Und die Übereinstimmung der Daten mit der Realität bezeichnet Popper als Basissatzproblem, während es sich bei der Übereinstimmung der Daten mit der Theorie um ein Korrespondenzproblem handelt. Das Korrespondenzproblem beinhaltet die Schwierigkeit, eine Verbindung zwischen der „Beobachtungssprache“ und der „theoretischen Sprache“ herzustellen.
Als Beispiel für die Beobachtersprache soll der IQ-Wert dienen. Dieser ist ein mittels verschiedener Messverfahren erhobener Wert in Form einer Zahl. Für diese Zahl muss nun einen Anknüpfungspunkt zur theoretischen Sprache gefunden werden. Das wäre in diesem Fall also das theoretische Konzept der Intelligenz.
Die Frage ist hier demnach: Gibt der IQ-Wert wirklich das wieder, was gemessen werden soll?
Der naive Realismus würde annehmen, dass das der Fall ist. Der kritische Realismus hingegen hinterfragt die Genauigkeit der Messinstrumente beziehungsweise deren Gütekriterien sowie die Schlussfolgerungen aus den damit erhobenen Daten.
Unterschied zwischen Kritischen Rationalismus und kritischen Realismus
Theorien sollten nicht voreilig ausgesondert werden.
Der kritische Realismus widerspricht dem Kritischen Rationalismus in einem Punkt. Im kritischen Realismus fragt man sich, ob widerlegte Theorien wirklich sofort verworfen werden sollten. Immerhin könnte das hypothesenkonträre Ergebnis aufgrund von Messfehlern entstanden sein.
Die Daten sollten daher ebenfalls kritisch hinterfragt werden und nicht nur die Theorie.
Um den Bewährungsgrad einer Theorie auszuloten, sind Replikationsstudien unabdingbar. Diese Studien wiederholen detailgetreu eine vorherige Studie mit derselben Fragestellung und demselben theoretischen Hintergrund.
So kann eine scheinbar bereits widerlegte Theorie erneut überprüft und gegebenenfalls „entlastet“ werden. Werden bei der Replikationsstudie nämlich hypothesenkonforme Ergebnisse erzielt, können weitere Replikationsstudien diese ebenfalls prüfen. Die Anzahl und die Strenge der Studien (bei denen es sich um nichts weiter als Falsifikationsversuche handelt) geben Aufschluss auf die Haltbarkeit der Theorie.