Beschreibung | Der Völkermord gehört zu den Phänomenen, die sich dem menschlichen Verständnis zu entziehen scheinen. Wie ist es möglich, Tausende, Hunderttausende, ja Millionen von wehrlosen Menschen zu töten? Sie dazu noch zu demütigen, zu quälen, zu vergewaltigen, bevor man sie umbringt? Und wie verwandeln sich innerhalb kurzer Zeit einst friedfertige Menschen in Mörder?
Mit einer soziohistorischen Ursachenanalyse, der gängigen Praxis in der Genozidforschung, lässt sich nicht hinreichend erklären, wie ganz normale Menschen zu Tätern werden. Deshalb geht Sémelin konsequent interdisziplinär vor und interpretiert seine umfangreichen Materialien und Quellen u.a. mit Erkenntnissen der Soziologie, Politologie, Psychologie, Ethnologie. Die Frage nach der Macht, genauer gesagt: der Vernichtungsmacht, durchzieht dabei wie ein roter Faden die Untersuchung. Sémelin zeigt, welche Rhetoriken des Imaginären zum Beispiel der Angst, der Reinheit, der Sicherheit den Vernichtungsaktionen in Deutschland, Ex-Jugoslawien und Ruanda vorausgingen, welche sprachlichen und geistigen Manipulationen dazu beitrugen, die Tat vorzubereiten, welche Rolle der internationale Kontext spielte und wie der Mechanismus des Mordens jeweils in Gang gesetzt wurde. Der Massenmord offenbart sich so als vielschichtiger Prozess, in dem kollektive und individuelle Dynamiken politischer, sozialer und psychologischer Art ineinandergreifen.
Aufgrund seiner äußerst kritischen Perspektive auf die gegenwärtige politische Instrumentalisierung des sehr stark juristisch besetzten »Genozidkonzepts «, führt er den Begriff des Massakers ein. Das Massaker definiert Sémelin als zumeist kollektive Form der Vernichtung von Zivilisten und schafft damit die Basis für eine vergleichende Analyse der Shoah, der sogenannten ethnischen Säuberungen in Ex-Jugoslawien sowie des Genozids an den Tutsi in Ruanda. Dabei interessiert ihn insbesondere, wie sich massenförmige Gewaltdynamiken entfesseln, durch welche Prozesse sich in den Individuen der Übergang von der abstrakten Idee der Vernichtung zur konkreten Tat vollzieht.
Was lässt sich daraus für die Genozidforschung ableiten? Sémelin plädiert dafür, dass sich die Genozidforschung von den Rechtswissenschaften emanzipiert und ein sozialwissenschaftliches Profil herausbildet. Die Politik der Massaker noch mehr aus ihrer jeweiligen Vernichtungsdynamik zu begreifen, ist für ihn ein erster Ansatzpunkt. |