Quantitatives Paradigma und Theorienbildung in der Psychologie
Die wissenschaftliche Psychologie bedient sich im Zuge der Forschung verschiedener Ansätze. Neben dem quantitativen Paradigma gibt es das qualitative und das Mixed-Methods-Paradigma.
Alle drei gehen auf die Wissenschaftstheorie zurück. Diese beinhaltet verschiedene Vorgaben darüber, wie das wissenschaftliche Arbeiten ablaufen sollte, welche Rolle Werte in der Wissenschaft spielen oder wie die Wirklichkeit beschaffen ist und untersucht werden soll.
Die Paradigmen basieren jeweils auf verschiedenen wissenschaftlichen Ansätzen. Im Falle des quantitativen Paradigmas ist dies der Kritische Rationalismus. Dieser wiederum beeinflusst die Methoden, die in der Forschungspraxis zum Einsatz kommen sowie die Art und Weise der Theoriebildung.
Doch welchen Stellenwert haben Theorien in der quantitativen Forschung? Um diese Frage zu beantworten ist ein Verständnis vom Kritischen Rationalismus erforderlich. Welchen Informationsgehalt Theorien aufweisen, unter welchen Umständen sie fallen gelassen werden und was der Kritische Rationalismus mit Demokratie zu tun hat, erfährst du im folgenden Text.
Inhalt
Was sagen Informationsgehalt und Falsifizierbarkeit über eine Theorie aus?
Gemäß des Kritischen Rationalismus müssen Theorien falsifizierbar sein.
Es reicht also nicht, eine Theorie aufzustellen und scheinbar aufgrund von gemachten Beobachtungen als wahr zu deklarieren. Der Kritische Rationalismus geht davon aus, dass die Theorien weder zu beweisen sind, noch die Realität exakt wiedergeben. Es handelt sich bei Theorien lediglich um Vermutungen über die Realität.
Das quantitative Paradigma beruht auf den Annahmen des Kritischen Rationalismus und arbeitet theoriegeleitet. Anders als im qualitativen Paradigma wird hier nicht von Beobachtungen auf eine Theorie geschlossen. Stattdessen nimmt der Forschungsprozess die Theorie als Ausgangspunkt. Aus ihr werden Hypothesen abgeleitet, welche mit Hilfe von Daten geprüft werden.
Man kann sagen….
Im quantitative Paradigma wird sozusagen eine Theorie genommen und überprüft. Im qualitativen Paradigma wird eine Theorie aufgestellt. Und aus dieser Theorie heraus bildet man Hypothesen, welche anhand von Daten diese Theorie belegen sollen.
Sofern die Ergebnisse der Daten für die Hypothese sprechen, gilt die Theorie als vorläufig gesichert. Die Prüfung der Hypothesen kann auch als Falsifikationsversuch gesehen werden. Je mehr Falsifikationsversuche eine Theorie überstanden hat, desto mehr hat sie sich bewährt. Dennoch ist sie noch nicht bewiesen.
quantitative Paradigma: Konjunktion und Deduktion bei Theorien
Doch was sagen der Grad der Falsifizierbarkeit und der Informationsgehalt über die Theorie aus?
Beides steht im Zusammenhang mit der Gültigkeit und der Vorhersagekraft einer Theorie. Der Gültigkeitsbereich einer Theorie gibt an, wie allgemeingültig ihre Annahmen sind und das praktische Ziel von Theorien ist die Ableitung von Empfehlungen.
Diese können zum Beispiel die Wirksamkeit von bestimmten Therapieformen betreffen. Je breiter der Gültigkeitsbereich und je präziser die Vorhersagen einer Theorie, desto höher ist auch ihr Informationsgehalt. Gleichzeitig bietet sie mehr Ansatzpunkte für Beobachtungen, die widerlegt werden könnten. Die Falsifizierbarkeit ist demnach ebenfalls höher als bei einer Theorie mit kleinem Gültigkeitsbereich und vagen Vorhersagen.
Zur Veranschaulichung soll folgendes Beispiel dienen. Es soll ein kausaler Zusammenhang zwischen gewalthaltigen Computerspielen und aggressivem Verhalten untersucht werden. Es handelt sich hierbei um eine Ursache-Wirkungs-Annahme beziehungsweise einen Wenn-Dann-Satz.
Die Theorie könnte lauten:
„Wenn gewalthaltige Computerspiele gespielt werden, dann steigt das aggressive Verhalten“.
Fügen wir dem Wenn-Teil der Theorie weitere Faktoren hinzu, sinken sowohl Falsifizierbarkeit als auch der Informationsgehalt. Hier spricht man von einer Konjunktion. Die Theorie könnte nun lauten:
„Wenn gewalthaltige Computerspiele gespielt werden UND die Kinder über eine geringe Bildung verfügen UND die Eltern sie vernachlässigen UND…, dann steigt das aggressive Verhalten“.
Mit jedem weiteren Aspekt im Wenn-Teil nimmt die Allgemeingültigkeit ab, da der Geltungsbereich immer weiter eingeschränkt wird. Im Extremfall ist die Theorie nur noch auf einen Einzelfall anwendbar und auch nicht mehr falsifizierbar.
Denn ein „logisches Und“ schränkt den Fall immer weiter ein, da beide Teilaussagen wahr sein müssen – damit die Gesamtaussage wahr ist. Hier ein kleines Beispiel um dies zu verdeutlichen:
- Heute ist schönes Wetter.
- Im Winter schneit es täglich.
Falls heute schönes Wetter ist, ist die erste Aussage wahr. Die zweite ist sicherlich falsch, da es auch im Winter nicht täglich schneit. Kombiniert man beide mit einem „logischen Und“ ergibt sich:
Heute ist schönes Wetter und im Winter fällt täglich Schnee.
Die Gesamtaussage ist falsch, da ein Teil der Aussage falsch ist. Sobald nur ein Teil einer Gesamtaussage falsch ist, welche mit einem logischen Und verknüpft ist, ist die gesamte Aussage immer falsch.
Das bedeutet für Psychologie, Sozialforschung oder Wissenschaftstheorie, dass Gesamtaussagen – welche durch „Und“ verknüpft sind, entweder falsch sind oder sich der Geltungsbereich stark einschränkt.
Kommen wir zum logischen Oder – einer Disjunktion….
Das Hinzufügen weiterer Faktoren zum Wenn-Teil im Sinne einer Disjunktion hingegen hat einen steigernden Effekt auf den Grad der Allgemeingültigkeit. Bei der Formulierung „Wenn gewalthaltige Computerspiele gespielt werden ODER gewalthaltige Filme geschaut werden, dann steigt das aggressive Verhalten“ weitet sich der Gültigkeitsbereich wieder.
Denn bei einem „logischen Oder“ muss nur eine Teilaussage richtig bzw. wahr sein, damit die Gesamtaussage ebenfalls wahr ist. Als Beispiel: „Du bist reich oder arm.“ Ein Teil ist richtig, somit ist die Gesamtaussage richtig.
Was bedeutet dies für das quantitative Paradigma?
Beim Dann-Teil verhält es sich genau andersherum. Bei der Konjunktion steigen sowohl Informationsgehalt als auch Falsifizierbarkeit. Es werden mehr Konsequenzen aufgezeigt, die falsifiziert werden können:
„Wenn gewalthaltige Computerspiele gespielt werden, dann steigt das aggressive Verhalten UND das aggressive Denken“.
Bei einer Disjunktion sinken Informationsgehalt und Falsifizierbarkeit wieder.
Was bedeutet raffinierter methodologischer Falsifikationismus?
Methodologischer Falsifikationismus zielt auf eine Modifikation fehlerhafter Theorien ab.
Laut des methodologischen Falsifikationismus sollen Hypothesen nur dann verworfen werden, wenn die Methoden zur Datenerhebung in der Wissenschaftsgemeinschaft angesehen sind.
Das heißt…
Wurden bei der Datensammlung neue oder recht unbekannte Methoden genutzt, kann die Falsifizierung der Theorie angefochten werden. Denn immerhin könnten die Methoden fehlerhaft sein und das Messergebnis dadurch verzerrt haben. Die Daten wären zur Prüfung der Theorie also nicht von Nutzen. Sollte es sich doch um anerkannte und etablierte Methoden gehandelt haben, muss die Theorie dennoch nicht direkt verworfen werden.
Stattdessen kann eine fehlerhafte Theorie nochmals überarbeitet und geändert werden. Dazu bieten sich verschiedene Verfahren an. Eine davon ist die Exhaustion. Dabei wird der Theoriebereich soweit eingeschränkt, dass theoriekonträre Fälle ausgeschlossen werden. Hierdurch sinken allerdings auch wieder der Informationsgehalt und die Falsifizierbarkeit.
Was nicht passt, wird passend gemacht – Mit Abstrichen, aber auch Gewinnen
Für die Veranschaulichung des Kritischen Rationalismus wird häufig das Schwan-Beispiel herangezogen.
Nehmen wir einmal an, dass du nur weiße Schwäne auf einem bestimmten See entdecken kannst. Andersfarbige Schwäne sind nicht darunter. Nun könntest du den Schluss ziehen, dass alle Schwäne auf der ganzen Welt ebenfalls weiß sind.
Hierbei handelt es sich um eine induktive Schlussfolgerung, da du von einer speziellen Beobachtung auf eine allgemeine Theorie schließt. Dieses Vorgehen ist im qualitativen Paradigma üblich. Da der Kritische Rationalismus allerdings Bestandteil des quantitativen Paradigmas ist, verhält es sich hier genau andersherum. Es wird vom Allgemeinen auf das Spezielle geschlossen. Du bildest also keine Theorie aufgrund deiner Beobachtung, sondern überprüfst eine Theorie anhand von gesammelten Daten.
Beim induktiven Schluss wäre deine Theorie „Alle Schwäne sind weiß“ widerlegt, sobald du einen schwarzen Schwan siehst. Doch zurück zur Exhaustion. Ziel dieser ist es, den Geltungsbereich der Theorie soweit einzuschränken, dass sie nicht mehr durch einen widersprechenden Fall falsifiziert werden kann. Im Beispiel könnte deine modifizierte Theorie nun so lauten „Alle Schwäne in dieser Region sind weiß“. Zwar würde sich damit bei einer erneuten Studie der Bewährungsgrad deiner Theorie vergrößern. Allerdings sinkt gleichzeitig die Breite des theoretischen Geltungsbereichs und somit auch der Informationsgehalt.
Daneben gibt es noch den raffinierten methodologischen Falsifikationismus. Dabei handelt es sich um eine Weiterentwicklung von Poppers klassischem Falsifikationismus durch Imre Lakatos. Diese Weiterentwicklung beinhaltet eine empirische Bestätigung der Theorie und eine heuristische Erklärungskraft verglichen mit konkurrierenden Theorien. Das bedeutet, dass sie zur Ableitung neuer Hypothesen und Forschungsfragen verhelfen soll. Eine Theorie soll trotz der Falsifikation nicht verworfen, sondern angepasst werden.
Beim Theoriepluralismus werden Theorien nicht isoliert voneinander betrachtet. Hier werden nicht nur die einzelnen Studienergebnisse fokussiert, sondern die Theorie wird im Vergleich mit anderen Theorien bewertet. Wie groß ist die Erklärungskraft der Theorie verglichen mit anderen? Der Ansatz ist daher sinnvoll, weil verschiedene Theorien auch meist von unterschiedlichen Ursachen ausgehen. Die Annahmen der Theorien könnten sich demnach gegenseitig ergänzen.
Auch Forschungsprogramme liefern einen Hinweis auf die Bedeutsamkeit einer Theorie. Wird diese über einen langen Zeitraum hinweg stetig weiterentwickelt und bearbeitet, lassen sich die empirische Bewährung und ebenso der Informationsgehalt der Theorie steigern.
Entdeckungs-, Begründungs-, Verwendungszusammenhänge
Der Erkenntnisgewinn wird in verschiedene Bereiche eingeteilt: Entdeckung, Begründung und Verwendung. Begründungszusammenhang oder Rechtfertigungszusammenhang beinhaltet die Frage danach, ob Theorien nachvollziehbar als ungültig beziehungsweise falsifiziert gelten oder ob sie vorläufig als bestätigt oder als bewährt gesehen werden können.
Die Prüfung der Theorien erfolgt auf Basis des deduktiven Falsifikationsprinzips, also mittels empirischer Daten. Deduktiv bedeutet, dass Theorien beziehungsweise die aus ihnen abgeleiteten Daten anhand von Daten überprüft werden. Es ist also das Gegenteil des induktiven Schlussfolgerns, bei dem von Daten auf eine Theorie geschlossen wird. Die Erklärungskraft einer Theorie im Vergleich zu anderen Theorien ist ein Beurteilungskriterium im raffinierten methodologischen Falsifikationismus.
Ein anderer Bereich beschreibt den Entdeckungszusammenhang. Hier stellt sich die Frage nach der Art und Weise, wie neue Theorien und Hypothesen aufgestellt werden. Hierbei handelt es sich nach dem Verständnis des Kritischen Rationalismus nicht um eine wissenschaftstheoretische Angelegenheit, sondern um einen psychologischen Prozess.
Bei diesem Prozess spielen Intuition und Kreativität eine Rolle, welche im Kritischen Rationalismus als nicht logisch stringent oder rational gelten. Dennoch ist dieses Vorgehen in der Forschungspraxis ein gängiger Prozess. Laut Popper handelt es sich dabei jedoch nur um ein „Raten“ von Gesetzmäßigkeiten.
Im Kritischen Rationalismus können neue Theorien aufgrund von vorliegenden empirischen Arbeiten oder durch anekdotische Alltagserfahrungen entwickelt werden. Prinzipiell sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Wichtig ist allerdings, dass die Theorien relevant für die Forschung, widerspruchsfrei und falsifizierbar sind. Ob diese Kriterien zutreffen, wird dann von der Wissenschaftsgemeinschaft der Fachkollegen bewertet.
Beim Erkenntniszusammenhang ist noch ein weiterer Aspekt von Bedeutung: Der kumulative Erkenntnisfortschritt. Das bedeutet, dass eine schrittweise Annäherung an die Wahrheit durch Versuch und Irrtum stattfindet. Bestehende Theorien sollten vermehrt durch Replikationsstudien wiederholt untersucht werden, um ihren Bewährungsgrad auszuloten. Dazu kann auch die Modifikation der Theorien und ihre erneute Prüfung dienen.
Schließlich gibt es noch den Verwendungszusammenhang. Hier steht die Nutzung der wissenschaftlichen Theorien im Fokus. In der Wissenschaft können Theorien und die dazugehörigen Studien beziehungsweise deren Befunde als Grundlage für neue Theorien dienen. Für die Praxis besteht zum Beispiel die Möglichkeit, aufgrund der Theorien neue therapeutische Maßnahmen zu entwickeln.
Wird eine Theorie in der Praxis oft und erfolgreich genutzt, ist dies allerdings nicht zwingend mit einer umfassenden und systematischen Theorieprüfung gleichzusetzen. Allein schon aus dem Grund, weil in der Praxis sehr viele Einflussfaktoren vorherrschen.
Welche ethische Verantwortung geht mit der Theorieprüfung einher?
Die wissenschaftliche Forschung soll nicht nur Erkenntnisgewinn bringen, sondern sich auch an Werten orientieren.
Mit der Prüfung von Theorien und dem Generieren neuen Wissens gehen eine ethische Verantwortung einher sowie auch Objektivität im Forschungsprozess.
Diese Objektivität meint eine Wertneutralität im Umgang mit empirischen Daten. Die Forschenden sollen diesen gegenüber ergebnisoffen und wertfrei eingestellt sein. Dies wird anhand verschiedener Vorgehensweisen umzusetzen versucht. So wird in der quantitativen Forschung ein großer Wert auf Standardisierung, Strukturierung und ein detailliertes Offenlegen des Forschungsvorgehens gelegt.
Zudem werden Studien vor ihrer Veröffentlichung durch Fachkollegen geprüft. Hier spricht man auch von einem Peer Review. Die kritische Prüfung durch Fachkollegen stellt ein wichtiges Korrektiv dar. Ebenso wie die Durchführung von Replikationsstudien. Objektivität bedeutet im Rahmen des Kritischen Rationalismus, dass die Wertevorstellungen der Wissenschaftler den Forschungsprozess nicht beeinflussen dürfen. Diese Aspekte der Werteneutralität beziehen sich vor allem auf den Begründungszusammenhang.
Kritischer Rationalismus als Schutz vor Denkverboten
Doch auch im Entdeckungs- und Verwertungszusammenhang sind Werte von Bedeutung.
Forschende können sich in ihren persönlichen Wertevorstellungen unterscheiden. Das wiederum beeinflusst ihre Wahl des Forschungsthemas und auch die weitere Nutzung der Forschungsergebnisse. Die Forschungspraxis ist zudem häufig von wirtschaftlichen und politischen Faktoren abhängig.
Zwar sollte Forschung vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt aus werteneutral und unabhängig sein. Allerdings kann sie auch für andere Zwecke instrumentalisiert werden. Prinzipiell steht die Wissenschaftsgesellschaft für humanistische Werte ein: Menschenrechte, Demokratie, Freiheit, Gleichheit. Diese spiegeln sich auch in der Forschungsethik wider. Hier stehen die Rechte und der Schutz der Versuchspersonen im Laufe des Forschungsprozesses im Vordergrund.
Der Kritische Rationalismus sieht die Wissenschaft als einen endlosen Prozess der Wahrheitssuche. Er erhebt demnach keinen absoluten Anspruch auf die absolute Unfehlbarkeit seiner Aussagen. Somit entspricht er den Werten einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft und trägt seinen Teil zum Schutz vor Denkverboten und dogmatischen Heilsversprechen bei.