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Qualitatives Wissenschaftsparadigma: Definition, Bedeutung, Prinzipien und Methoden


Neben den quantitativen Wissenschaftsparadigma, welches eine Theorie anhand von Daten stützt oder stürzt – gibt es noch das qualitative Paradigma. Die Methoden, welche in diesem Wissenschaftsparadigma Anwendung finden – dienen der Theoriebildung.

Wieso unterscheidet man in der Wissenschaftstheorie nach quantitativen und qualitativen Paradigmen?

Hast du dich schon einmal gefragt, warum es in der Psychologie (beziehungsweise den Sozialwissenschaften allgemein) so viele verschiedene Forschungsmethoden gibt? Könnte man nicht auch einfach das menschliche Erleben und Verhalten nur anhand von Beobachtungen erklären und vorhersagen?

Die Antwort darauf ist leider nein, denn so einfach ist die menschliche Psyche nun einmal nicht zu durchschauen. Die wissenschaftliche Psychologie beruft sich bei ihrer Forschung auf wissenschaftstheoretische Annahmen, welche eine universelle Gültigkeit für sich beanspruchen.

Eine Wissenschaftstheorie beinhaltet verschiedenste Vorannahmen sowohl über die Art und Weise des Forschungsvorgehens als auch über ethische Fragen rund um die Erhebung, Verarbeitung und Weiterverwendung der erhobenen psychologischen Daten.

Diese wissenschaftstheoretischen Annahmen erlauben ein strukturiertes wissenschaftliches Vorgehen, welches transparente und nachvollziehbare Ergebnisse hervorbringt. Im Folgenden soll der Fokus auf dem qualitativen Paradigma der psychologischen Wissenschaftstheorie liegen.

Doch was ist das qualitative Paradigma überhaupt?

Die Wissenschaftstheorie beinhaltet drei verschiedene Paradigmen: Das quantitative, das qualitative und das Mixed-Methods-Paradigma.

Da der menschliche Geist sehr komplex ist, bedient sich die Psychologie einer Vielzahl von Forschungsmethoden, welche jeweils auf unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Annahmen gründen. Experimente beispielsweise sind dem quantitativen Paradigma zuzuordnen. Dieses setzt ein theoriegeleitetes Vorgehen voraus.

Am Anfang des Forschungsprozesses steht dabei eine Theorie, die anhand von gesammelten Daten überprüft werden soll. Diese Daten sind numerisch, werden also in Form von Zahlen erhoben und statistisch ausgewertet. Daneben gibt es noch das Mixed-Methods-Paradigma, welches die Methoden des quantitativen und des qualitativen Paradigmas in sich vereint.

Darunter versteht man ein Forschungsvorgehen, welches sich sowohl in Bezug auf den Forschungsstartpunkt als auch bei der Wahl der Untersuchungsmethoden vom quantitativen Ansatz unterscheidet. Im qualitativen Paradigma werden Theorien nicht mittels Daten geprüft, sondern erst aufgrund des Datenmaterials entwickelt.

Die Theorie steht hier also nicht am Anfang des Forschungsprozesses, sondern erst am Ende. Auch die qualitativen Forschungsmethoden unterscheiden sich von den quantitativen. So finden hier eher nicht-standardisierte Interviews oder Dokumentenanalysen statt.

Das Ziel des qualitativen Paradigmas ist nicht die Theorieprüfung, sondern das Verstehen und interpretative Rekonstruieren von psychischen und sozialen Phänomenen. Daher auch der Name „Sozialkonstruktivismus“.

Sozialkonstruktivismus als wissenschaftstheoretische Grundlage im qualitativen Forschungsparadigma

Der Sozialkonstruktivismus ist ein interpretativer Ansatz. Er unterscheidet zwischen Konstruktionen erster und zweiter Ordnung. Bei den Konstruktionen erster Ordnung handelt es sich um das zu erforschende Phänomen, während die Konstruktion zweiter Ordnung die interpretative Rekonstruktion des Phänomens darstellen.

Das heißt….
In erster Ordnung werden Phänomene konstruiert und in zweiter Ordnung werden die gleichen Phänomene neu angelegt. Dies betrifft sämtliche Vorgänge des menschlichen Zusammenlebens, der Sprache, der Gebräuche usw. So kann es sein, dass das Wort „Gerechtigkeit“ – je nach Gesellschaft in welcher es gebraucht wird, eine andere Bedeutung hat.

Auch das Wort „Wirklichkeit“ hat je nach Standpunkt eine andere Bedeutung. Die interpretative Rekonstruktion unterschiedet sich dabei je nach Betrachter. Und dabei ist es durchaus möglich, dass mehrere Konstruktionen zweiter Ordnung nebeneinander bestehen. Diese werden nicht als sich gegenseitig ausschließend betrachtet, sondern stellen im Idealfall eine gegenseitige Ergänzung dar.

Eine Theorie über eine bestehende Wirklichkeit kann somit zwei Standpunkte haben, welche sich voneinander unterscheiden.

Da der Forschungsprozess sich als eine Zusammenarbeit zwischen Forschenden und Beforschten (2 Standpunkte) gestaltet, haben alle Beteiligten eine bestimmte Handlungsmacht und eine ethische Verantwortung. Dennoch müssen die Standpunkte, deren Erarbeitung und Herleitung einer Wissenschaftlichkeit unterliegen und gewisse Prinzipien einhalten.

Halten wir bis hier kurz fest…

  • Das qualitative Wissenschaftsparadigma dient der Theoriebildung.
  • Dabei arbeiten Beforschter und Forschender eng zusammen, um so eine Theorie über das Handeln und Verhalten des Beforschten zu erstellen.
  • Während des Forschungsprozesses gilt das Prinzip des Sozialkonstruktivismus, wonach auch zwei Theorien gleichzeitig Bestand haben können.

Die Methoden des qualitativen Paradigmas und die Prinzipien zur Wahrung der Wissenschaftlichkeit

Hier spielt der jeweilige Kontext und die Sichtweisen der beforschten Personen eine größere Rolle als in der quantitativen Forschung. Daher werden hier auch eher nicht-numerische, sondern sprachlich kodierte Daten erhoben. Auch ist der wissenschaftstheoretische Hintergrund ein anderer. Während das quantitative Paradigma auf dem Kritischen Rationalismus beruht, besteht beim qualitativen Paradigma kein eindeutiger Bezugsrahmen.

Hier fließen verschiedene Methoden ein, wodurch eine sehr durchmischte Vielzahl an Untersuchungsmethoden zusammenkommt. Diese Methoden entstammen zum Beispiel der Hermeneutik, der Dialektik oder auch der Grounded-Theory-Methodologie. Das Problem dabei ist allerdings, dass aufgrund der verschiedenen Ursprünge der Methoden die Frage nach der Vergleichbarkeit von Studienergebnissen aufkommt. Um dennoch einen Rahmen für die Güte der qualitativen Studien zu geben, haben sich fünf Prinzipien etabliert, welche im Folgenden näher beschrieben werden.

1. Prinzip: Ganzheitliche und rekonstruktive Erforschung sozialer und psychologischer Phänomene

Im qualitativen Paradigma herrscht ein anderes Menschenbild vor als im quantitativen.
Letzteres versucht, kausale Zusammenhänge aufgrund von Daten nachzuvollziehen. Es wird also eher mit Elementen oder Details der Psyche gearbeitet. Dahinter steckt die Annahme, dass das menschliche Denken und Handeln bestimmten und allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten folgt, die es aufzudecken gilt.

Im Gegensatz dazu strebt das qualitative Paradigma nach dem Verständnis den „großen Ganzen“. Es wird angenommen, dass der Mensch ein selbstbestimmtes und reflektiertes Wesen ist, weshalb sein Verhalten auch nicht kausal durch Gesetzmäßigkeiten erklärt werden kann. Viel mehr entstehen soziale und psychische Phänomene aufgrund von menschlicher Kommunikation und Interaktion. Daher steht die Untersuchung der ganzheitlichen Lebenswelt hier im Fokus.

Einblicke in den Alltag statt Laboruntersuchungen

Um die jeweiligen Lebenswelten der Beforschten (welche in der qualitativen Forschung eher „Kommunikationspartner“ genannt werden) bestmöglich zu verstehen, wurden verschiedene qualitative Forschungsmethoden entwickelt.

Die Forscher nehmen am individuellen Alltag der Menschen teil und ziehen Erzählungen einer künstlichen Laborsituation mit standardisierten Tests vor. Die Beforschten werden als Experten ihrer eigenen Lebenswelt gesehen, wodurch ein tieferer Einblick in sozial und psychische Ereignisse gegeben werden soll.

Dazu muss allerdings gesagt werden, dass der Fokus auf die eigene Lebenswelt immer eingeschränkt ist. Niemand ist in der Lage, sämtliche Einflussfaktoren verschiedener Ebenen wahrzunehmen. Beeinflussende Strukturen auf höheren Ebenen (zum Beispiel gesellschafts-politische Umstände) liegen ebenso außerhalb der Wahrnehmung wie solche auf kleineren Ebenen (wie etwa neurobiologische Prozesse).

Um die gewonnenen Daten aus der Lebenswelt verwertbar zu machen, werden diese abstrahiert. Immerhin ist die Theoriebildung das Ziel des qualitativen Forschungsvorgehens und es soll generealisierbares Wissen aufgrund einzelner Studien entstehen.

2. Prinzip: Reflektierte Offenheit bei der Theoriebildung

Im qualitativen Forschungsprozess soll eine möglichst offene Datenerhebung stattfinden. Es gilt daher das Prinzip der theoretischen Offenheit: Phänomene sollen untersucht werden, ohne dass die Prüfung einer bestimmten Theorie angestrebt wird.

Erkenntnisgewinn besteht im qualitativen Paradigma schließlich aus der Bildung neuer Theorien und nicht aus der Überprüfung bestehender, wie es in der quantitativen Forschung der Fall ist. Allerdings ist ein vollkommen offenes Vorgehen unmöglich, da die Forschung sonst sehr planlos verlaufen würde.

Stattdessen soll eine relative und reflektierte Offenheit zum Einsatz kommen: Zwar können vorab Vorannahmen bestehen, welche die Forschungsrichtung andeuten. Doch eine konkrete Theorie steckt nicht dahinter. Daher soll auch eine Offenheit gegenüber Daten und Phänomenen beibehalten werden, welche nicht zu den Vorannahmen passen.

Diese den Annahmen widersprechenden Ereignisse können als Quelle neuen Wissens genutzt werden. Eine möglichst unverzerrte Beschreibung des sozialen oder psychologischen Phänomens kann zur Bildung weiterer Theorien beitragen.

3. Prinzip: Zirkularität und Flexibilität im Forschungsprozess

Das qualitative Paradigma arbeitet mit mehreren Untersuchungsdurchläufen statt mit einem stringenten und vorab festgelegten Untersuchungsplan.

Es findet sich viel Flexibilität im Forschungsprozess. Zwischenergebnisse werden als Basis für die Überarbeitung der Untersuchung genutzt. Dabei können sich die Forschende selbst einige Reflexionsfragen stellen:

  • Müssen mehr Fälle ausgewählt werden?
  • Sind die Datenerhebungsmittel und -analysemethoden für die aktuelle Studie überhaupt geeignet?

Solche und andere Fragen können im Forschungsprozess aufkommen und werden in eben diesem auch beantwortet. Dieses Prinzip der Prozessualität ermöglicht eine schrittweise Annäherung an den Untersuchungsgegenstand. Auch wenn der Begriff der Zirkularität oft verwendet wird, ist er eigentlich nicht ganz zutreffend. Es handelt sich eher um eine „Spirale“, da schließlich nicht immer dieselben Zyklen durchlaufen werden.

Obwohl das Forschungsvorgehen des qualitativen Paradigmas in der Regel von vorab strukturierten Datenerhebungsmethoden absieht, werden dennoch nicht selten standardisierte Fragebögen genutzt. Das hat vor allem bei groß angelegten Studien forschungsökonomische Gründe. Denn bei einer großen Zahl an Befragten müssen dementsprechend auch viele geschulte Interviewer und zeitliche Ressourcen vorhanden sein.

Sofern das nicht der Fall ist, finden viele standardisierte Interviews parallel statt. Das hat allerdings den Nachteil, dass es zu Qualitätseinbußen kommt. Schließlich kann somit keine schrittweise Verbesserung des Interviewleitfadens vorgenommen werden.

4. Prinzip: Forschung als Kommunikation und Kooperation zwischen Forscher und Beforschtem

Zentral ist in der qualitativen Forschung die Sichtweise der Beteiligten auf das Geschehen.
Die Kommunikation zwischen Befragtem und Forscher ist daher von großer Bedeutung. Dabei sind drei verschiedene Kommunikationswege zu unterscheiden:

  1. Direkte Kommunikation
  2. medienvermittelte Kommunikation
  3. und Dokumentenanalyse.

Bei der direkten Kommunikation soll ein ganzheitlicher Eindruck von der befragten Person entstehen. Dazu zählen auch nonverbale Signale und Hintergrundinformationen. Spontane Rückfragen sind hier ebenfalls möglich.

Bei der medienvermittelten Kommunikation (beispielsweise einem Chat) sind gegebenenfalls andere Zielgruppen erreichbar, welche für eine direkte Befragung nicht zugänglich wären. Außerdem besteht durch eine mediale Enthemmung der Vorteil, dass die Befragten hier auch bei heiklen Themen meist offener antworten.

Die Dokumentenanalyse kommt ohne Kontakt zum Befragten aus. Hierbei werden Artefakte aus dessen alltäglichen Lebenswelt untersucht. Dazu zählen beispielsweise Fotos, Briefe oder Tagebucheinträge. Ob seine Interpretation der Dokumente zutreffend ist, muss der Forschende in Rücksprache mit dem Beforschten abklären.

Auch die Kooperation zwischen Forscher und Beforschtem ist nicht zu vernachlässigen. Diese ist eine Voraussetzung für das Fremdverständnis des Forschenden vom Beforschten. So ist eine vertrauensvolle Offenheit seitens des Beforschten ebenso wichtig, wie die persönliche Einbringung des Forschers und dessen Bemühen um ein angemessenes Arbeitsbündnis im Forschungsprozess. Dieses Bündnis wird auch als Rapport bezeichnet und muss ausführlich dokumentiert und reflektiert werden.

Wichtig sind die Unterscheidung nach Research Up und Research Down

Daneben ist ein Blick auf die Machtsymmetrien wichtig. Anders als im quantitativen Paradigma wird der Forscher nicht als potenzieller „Störfaktor“ gesehen, dessen eigenen Ansichten unter keinen Umständen in die Erhebung und Auswertung der Daten einfließen sollten.

Im qualitativen Paradigma werden die subjektiven Merkmale des Forschenden als Ressourcen angesehen, die es in den Forschungsprozess einzubringen gilt. Allerdings besteht bei dem engeren Verhältnis zwischen Forschenden und Beforschten die Gefahr ungleicher Machtsymmetrien.

Beim sogenannten Research Down liegt die Macht beim Forschenden. Dieser wirkt unnahbar und der Beforschte ist wenig geneigt, sich offen und vertrauensvoll an der Forschungsarbeit zu beteiligen.

Beim Research Up verhält es sich genau umgekehrt. Der Beforschte ist hier im Besitz der Macht und vereinnahmt den Forschenden. Unter Umständen nimmt er den Forscher nicht ernst und gefährdet damit das Arbeitsbündnis. Als Beispiel kannst du dir hier eine junge Forscherin vorstellen, die in einem großen Unternehmen zu Geschlechterdiskriminierung in Führungspositionen forschen möchte, welches ausschließlich von älteren Männern geleitet wird.

5. Prinzip: Selbstreflexion des Forschenden und Perspektivität des Forschenden

Zwar ist Subjektivität des Forschenden im qualitativen Forschungsprozess gern gesehen, dennoch darf sie nicht den Forschungsprozess negativ beeinflussen.

Wie bereits erwähnt, dreht es sich bei der quantitativen Forschung um die Überprüfung von Theorien. Das wiederum erfolgt durch die standardisierte Sammlung und Auswertung numerischer Daten, wobei die Subjektivität des Forschenden keine Rolle spielt. Das macht den Vergleich von verschiedenen Studienergebnissen zur selben Theorie einfacher. Im qualitativen Paradigma ist die Forschung hingegen immer mit der Subjektivität des Forschers verknüpft. Hier spricht man auch von einer subjektivistischen Erkenntnistheorie.

Um dennoch Wissenschaftlichkeit zu gewährleisten, ist eine stetige Dokumentation und Reflexion der individuellen Perspektive des Forschenden nötig. Unterstützt wird dieses Vorgehen durch verschiedene sogenannte Korrektive. Dazu zählen etwa die Mitforschenden im selben Forschungsprojekt sowie auch außenstehende Forscher.

Doch auch die Beforschten können ein Korrektiv der subjektiven Forscherperspektive darstellen. Der Forschende sollte daher bei seiner Arbeit immer wieder die Befragten über seine Zwischenergebnisse informieren und mit ihnen besprechen, ob seine Interpretationen auch die Lebenswelt der Befragten widerspiegeln.


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