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Annales-Schule (École des Annales): Entstehungsgeschichte und wissenschaftliche Bedeutung


Die Annales-Schule ist die bedeutendste französische Historiker-Schule des 20. Jahrhunderts mit einer bis heute einflussreichen geschichtswissenschaftlichen Denktradition. Gegründet wurde sie in den 1920er Jahren von Marc Bloch (1886-1944) und Lucien Febvre (1878-1956).

Die ihr zugrunde liegende Methodik geht auf den deutschen Historiker Karl Lamprecht (1856-1915) zurück. Geprägt wurde die École des Annales durch die Wissenschaftler der zweiten Generation, vor allem durch Fernand Braudel (1902-1985). Die Bezeichnung Annales-Schule geht auf die im Jahr 1929 von Bloch und Febvre gegründeten Fachzeitschrift „Annales d’histoire économique et sociale“ zurück. Die Zeitschrift war von Anfang an das „Sprachrohr“ der Vertreter der neuen wissenschaftlichen Schule, weshalb diese schlicht nach der Zeitschrift benannt wurde.

Die Zeitschrift gibt es noch heute, heißt aber seit 1944 „Annales. Histoire, Sciences sociales“. Herausgeberin ist die Pariser Elite-Hochschule für Sozialwissenschaften „École des hautes études en sciences sociales“, kurz EHESS. Die Hochschule, an der die bedeutendsten Sozial- und Geschichtswissenschaftlern Frankreichs lehrten und ausgebildet wurden, gilt heute als wichtigste Vertreterin der Annales-Schule.

Die wissenschaftliche Bedeutung der Annales-Schule

Im 20. Jahrhundert war die Annales-Schule die wichtigste Denkrichtung in der französischen Geschichtswissenschaft. Sie hat mehrere Generationen bedeutender französischer Historiker hervorgebracht. Vertreter dieser wissenschaftlichen Schule etablierten eine neue Methodologie in der Geschichtswissenschaft und legten damit die Grundlagen für die sogenannte nouvelle histoire der 1970er Jahre.

Deren Hauptvertreter waren Jacques Le Goff und Pierre Nora. Die Annales-Schule hatte aber auch auf den internationalen Wissenschaftsbetrieb großen Einfluss. In Deutschland der 1970er Jahre beispielsweise entwickelte sich aus ihr die Bielefelder Schule um die Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka.

Die Annales-Schule etablierte drei völlig neue wissenschaftliche Ansätze:

  • 1) Die Wirtschaft und die Gesellschaft mit ihren überindividuellen Strukturen und Prozessen wurden in die Betrachtung der geschichtlichen Ereignisse miteinbezogen. Georges Duby wurde mit seinen darauf basierenden Arbeiten über das Mittelalter auch einer breiten deutschen Leserschaft bekannt.
  • 2) Es wurde quantifizierbares Material in Form messbarer Daten und Zahlenwerte erfasst und untersucht.
  • 3) Erdgeschichtliche und historische Entwicklungen über lange Zeiträume wurden in die Untersuchungen mit einbezogen. Fernand Braudel prägte dafür den Begriff longue durée.

Es wurden nicht mehr aneinandergereihte Einzelereignisse zu einer Geschichtserzählung zusammengefasst, sondern Zusammenhänge wurden untersucht und Entwicklungen wurden erklärt. Neben den sehr langen Entwicklungszeiträumen, in denen sich die Landschaften und das Klima formten, gibt es auch solche von mittlere Dauer (moyenne durée) wie etwa Konjunkturen, also gesamtwirtschaftliche Lagen, und welche von kurzer Dauer (courte durée), die sich in Form von Ereignissen abzeichnen. Alle drei Zeitabläufe greifen ineinander und ergeben ein komplexes Ganzes.

Vor welchem wissenschaftlichen Hintergrund entstand die Annales-Schule?

Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein mangelte es den Geschichtswissenschaften an Theorien und Methodik. Das war nur in Frankreich der Fall, sondern überall. Es dominierte der Historismus als geschichtswissenschaftliche Strömung. Ihm lag eine individualisierte Betrachtungsweise der Geschichte zugrunde.

Die Idee, es könnten soziale oder menschliche, also überindividuelle Kräfte existieren, die die Geschichte prägten, wurden abgelehnt. Vertreter des Historismus waren strickt gegen die Einführung schematischer „Großtheorien“. Diese überließen sie der Sozialwissenschaft, von der sich die Geschichtswissenschaft unterscheiden wollte. Im Historismus steht die Staatsgeschichte im Vordergrund, nach dem Motto: Männer machen Geschichte. Wirtschafts- und Sozialgeschichte fanden wenig Betrachtung.

Französische Geschichtswissenschaftler sahen sich um die Wende vom 19. Jahrhundert zum 20. Jahrhundert massiver Kritik aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen ausgesetzt. Geschichte wurde als Wissenschaft nicht ernst genommen. Zum einen weil sie keine Theorien erarbeitete und zum anderen weil sie nur exemplarische, individuelle Fälle beschrieb, etwa in Form von Biographien von Staatsmännern oder von Abhandlungen über das Werden und Wachsen von Nationen und Staaten. Es wurde interpretiert und erzählt statt analysiert und erklärt.

Dies führte dazu, dass sich fachfremde Forscher, wie etwa Naturwissenschaftlicher, an historische Themen heranwagten und die Menschheitsgeschichte anhand naturwissenschaftlicher Theorien ausloteten. Der französische Forscher Paul Vidal de la Blache (1845-1918) untersuchte beispielsweise den Umwelteinfluss auf die Menschheitsentwicklung. Vidal de la Blache gilt als der Begründer der Humangeographie. Sein Schüler Fernand Braudel wurde einer der einflussreichsten und richtungsweisendsten Vertreter der École des Annales.

Es war noch an der Universität Straßburg als Marc Bloch und Lucien Febvre in den 1920er Jahren begannen, eng mit Wissenschaftlern von Nachbardisziplinen zu kooperieren, wie etwa Soziologen, Ethnologen und Geographen. Der Mangel an geschichtswissenschaftlichen Theorien und einer speziellen Methodik machte es notwendig, sich mit den Methoden anderer Forschungsbereichen auseinanderzusetzen und diese für die Geschichtswissenschaft anzupassen und anwendbar zu machen.

In Deutschland gab es schon seit 1903 die Zeitschrift „Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“. Bloch und Febvre gründeten 1929 nach diesem Vorbild ihre Fachzeitschrift „Annales“. Sie ermöglichte fachspezifische Veröffentlichungen und eine wissenschaftliche Auseinandersetzung im Rahmen der neuen geschichtswissenschaftlichen Herangehensweise.

Die Annales-Schule etablierte sich 1947 als außeruniversitäres Forschungszentrum für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in der Pariser Elite-Hochschule EHESS. Hier lehrten und studierten Wissenschaftler, die in der Folgezeit überall in Frankreich bedeutende Lehrstühle besetzten. Sie veränderten auch das Geschichtsbild der Franzosen. Annales-Historiker dominierten als Autoren der großen Buch-Verlage, der großen Zeitungen und auch bei Auftritten in Radiosendungen zu historischen Fragestellungen. So wurde die École des Annales zur einflussreichsten geisteswissenschaftlichen Strömungen in Frankreich des 20. Jahrhunderts.

Die Arbeitsweise der École des Annales

Es gibt im Grunde keine spezielle Annales-Geschichtsschreibung. Bis heute sind gerade die Offenheit für Neues und die Methodenvielfalt Kennzeichen der Annales-Schule. So verwischen gerade in der jüngeren Zeit die methodischen Grenzen. Annales-Historiker stellten wieder vermehrt Einzelpersonen in den Fokus ihrer Untersuchungen.

Eines der beiden Hauptmerkmale der Annales-Schule ist der Rückgriff auf Arbeitsmethoden der sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen und ihre Einbindung in die Geschichtswissenschaft. Das andere Hauptmerkmal ist die klare Abgrenzung gegen die politische Ereignisgeschichte, die als „Oberflächengeschichte“ abgelehnt wurde.

Fernand Braudel führte den Begriff Strukturgeschichte in die École des Annales ein. Es geht dabei nicht um einen bestimmten geschichtswissenschaftlichen Teilbereich, sondern um eine bestimmte Methodik. Mittels einer strukturgeschichtlichen Herangehensweise können alle Teilbereiche der Geschichtswissenschaft untersucht und in ihren Zusammenhängen erfasst werden. Das Ergebnis ist eine gesamtgeschichtliche Darstellung bestimmter Strukturen und Prozesse, die sich hinter dem Handeln Einzelner und hinter einzelnen Ereignissen zeigen.

Die Strukturgeschichte führte generalisierende und typisierende Begriffe in die Geschichtswissenschaft ein. Wichtig wurden die vergleichende Betrachtungsweise, die Anwendung sozialwissenschaftlicher Theorien und die Einführung statistischer und empirischer, also quantitative und qualitative Methoden.

Was interessierte, waren die überpersonalen Kräfte, also die historischen, evolutionären Prozesse. Hier sind auch die Ansätze der Mentalitätsgeschichte zu erkennen. Annales-Historiker gehen von Mentalitäten der Menschen ganzer Epochen aus. Der Mensch einer bestimmten Epoche hat bestimmte Gedanken, Gefühle und Einstellungen. Welche das sind, untersucht die Annales-Schule.

Die quantitative Methode der Mentalitätsgeschichte hat eine systematische Untersuchung jeglicher Quellengattung zur Folge. Alles wird für die Erforschung bestimmter, zum Beispiel schicht- oder berufsspezifischer Mentalitäten herangezogen: Briefe, Porträts, Tagebucheinträge, Akten, Grabinschriften, Heiratsurkunden, Werkzeuge, Spielzeuge, Architektur, Mode, Vorstellungen von Glück, Tod, Leid, Liebe, Erziehung oder der Umgang mit Tieren.

Jegliche Quelle dient als Datengrundlage zur Erforschung überindividueller Mentalitäten. Neu war auch die Hinwendung zur Geschichte der ländlichen Räume und ihrer einfachen Bevölkerung. Es ging den Annales-Historikern auch um die „Verräumlichung“ der Geschichte, also um die Geschichte bestimmter Regionen, nicht einzelner Ereignisse. Es entstanden Werke wie „Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.“ von Fernand Braudel, „Die Frau ohne Stimme. Liebe und Ehe im Mittelalter“ von Geoges Duby oder „Die Geschichte der Kindheit“ von Philippe Ariès.

Kritik an der Annales-Schule

Die Annales-Schule grenzt sich klar von der Ereignisgeschichte ab. Ereignisgeschichte ist Politikgeschichte, die den Staat und die für ihn handelnden Personen in den Fokus ihrer Untersuchungen stellt. Ereignisgeschichte ist nicht nur Politikgeschichte, sondern auch Geschichte der Diplomatie und des Militärs.

Sie war vor allem in Deutschland vertreten, weshalb gerade von hier Kritik an der École des Annes geäußert wurde. Ereignisgeschichte liefere, so die Argumentation, klare Fakten. Den Annales-Historikern werden anachronistische und eklektizistische Vergleiche vorgeworfen. Sie würden finden, was aufgrund ihrer Theorien erwartbar sei. Sie würden politische Faktoren vernachlässigen und sich damit von gesicherten Fakten entfernen. Gesellschaften würden als selbstregulierende Systeme erscheinen. Menschengemachte Ordnungspolitik bliebe unberücksichtigt.

Der Forschungsgegenstand der Annales-Schule ist im Prinzip grenzenlos. Sie sieht sich als „histoire totale“ und irgendwo zwischen der Sozial- und Kulturwissenschaft angesiedelt. Die Annales-Historiker sehen sich geradezu verpflichtet mit den Nachbardisziplinen zu kooperieren und ihre Methoden und ihre Forschungsergebnisse zu übernehmen.

Diese Offenheit und wenig klare Grenzziehung zu den Nachbardisziplinen wird von Kritikern als Verschwommenheit und unsaubere Methodik betrachtet. Die Annales-Schule ist aber gerade keine dogmatische Wissenschaft. Sie ist nicht disziplingebunden, sondern problemorientiert ausgerichtet. Interdisziplinarität, intertemporäre und interkulturelle Vergleiche sind ihre Hauptmerkmale und zugleich ihre größten Kritikpunkte.

Die bedeutenden Vertreter der École des Annales

Rückblickend gibt es vier Generationen von bedeutenden französischen Historikern, die der Annales-Schule zuzurechnen sind. Die erste Generation sind die Historiker um die Gründer Marc Bloch und Lucien Febvre. Es ist die Gründergeneration der École des Annales. Sie gaben die Richtung vor: Der Zusammenhang von Gesellschaft und Geschichte.

Die Gründergeneration verband die Geschichtswissenschaft mit den damals neu aufkommenden Disziplinen wie der Soziologie, Psychologie, Geographie und Linguistik. Eine ihrer Grundideen: Der Historiker soll eine aktive Rolle bei der Konstruktion seines Forschungsgegenstandes einnehmen.

Die zweite Historiker-Generation erlangte nach dem Zweiten Weltkrieg große internationale Bedeutung. Es waren die Forscher um Fernand Braudel und Ernest Labrousse. Sie prägten den Begriff longue durée, der als Hauptforschungsmerkmal dieser zweiten Forscher-Generation bezeichnet werden kann. Ihnen ging es um große Zeiträume, die die menschliche Geschichte prägten: Umwelt- und geologische Bedingungen.

Sie versuchten Strukturen zu entdecken, die unter den oberflächenhaft ablaufenden Ereignissen zu finden sein mussten, sogenannte „lange Reihen“. Braudel ging es um die Untersuchung historischer Ungleichzeitigkeiten auf den Ebenen der politisch-militärischen Ereignisse, der wirtschaftlichen Entwicklungen und der Mentalitätsverschiebungen.

Innerhalb der dritten Forscher-Generation bildeten sich in den 1950er und 1960er Jahren zwei Richtungen heraus. Zum einen war es die Mentalitätsgeschichte und zum anderen eine Vertiefung der quantitativen Methodik der „langen Reihen“. Dabei ging es um die statistische Auswertung von gleichartigen Quellen, die in großen Mengen vorhanden waren. Wichtigste Vertreter dieser dritten Generation sind Georges Duby, Jacques Le Goff, Emmanuel Le Roy Ladurie und Pierre Chaunu. Ihr Hauptaugenmerk lag auf der Verbindung mentalitäts- und wirtschaftsgeschichtlicher Ansätze.

Die vierte Generation Annales-Historiker ist den 1970er Jahren zuzuordnen. In Frankreich hatte sich die Annales-Schule zur bedeutsamsten geschichtswissenschaftlichen Strömung entwickelt. Auch im deutschen Wissenschaftsbetrieb erlangte die Annales-Schule nun Aufmerksamkeit. Den Forschern ging es nun darum die Forschungsmethoden und Forschungsgegenstände stärker auszudifferenzieren. Es entwickelten sich neue Ansätze, auch im Ausland, etwa in Italien die Microstoria. Außerdem wandten sich einige Forscher wieder der politischen Ereignisgeschichte zu, allerdings unter neuer Perspektive.

Zusammenfassung

  • Die École des Annales, also die Annales-Schule, wurde in den 1920er Jahren in Frankreich begründet.
  • Ihre Bezeichnung bezieht sich auf die Fachzeitschrift dieser neuen geschichtswissenschaftlichen Ausrichtung, deren Namen heute „Annales.
  • Histoire, Sciences sociales“ lautet. Die Gründer der Annales-Schule waren die französischen Historiker Marc Bloch und Lucien Febvre.
  • Anstelle der Erforschung politischer oder militärischer Ereignisse, die auf Entscheidungen einzelner Personen beruhten, wurden nun die solchen Ereignissen zugrunde liegenden Strukturen untersucht.
  • Ereignisgeschichte wurde als Oberflächengeschichte betrachtet.
  • Staatsgeschichte und Nationalgeschichte verloren an Bedeutung.
  • Wichtig wurden die Denkmuster und Vorstellungen sozialer Gruppen.
  • Nun ging es um Wirtschafts-, Kultur-, Mentalitäts- und Sozialgeschichte.
  • Um all diese Bereiche wissenschaftlich untersuchen zu können, musste auf Methoden und Theorien der Nachbardisziplinen zurückgegriffen werden.

Literatur und Quellen

  • Marc Bloch, Fernand Braudel, Lucien Febvre: Schrift und Materie der Geschichte, Vorschläge zu systematischen Aneignung historischer Prozesse. Herausgegeben von Claudia Honegger. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1977, ISBN 3518008145
  • Peter Burke: Offene Geschichte. Die Schule der „Annales“. Wagenbach Verlag, Berlin 1991, ISBN 3803135621
  • Stefan Jordan: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, utB GmbH, ISBN 3825250059
  • Lutz Raphael: Die Erben von Bloch und Febvre. Annales-Geschichtsschreibung und nouvelle histoire in Frankreich. 1945–1980. Klett-Cotta, Stuttgart 1994, ISBN 3608913041
  • Stefan Jordan: Lexikon Geschichtswissenschaft: Hundert Grundbegriffe (Reclams Universal-Bibliothek), ISBN 3150005035

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