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Geschichte der Protestkultur in Europa bis zur Letzten Generation


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Im weitesten Sinn steht Kultur für bestimmte Wertvorstellungen und erlernte Verhaltensweisen einer bestimmten Gruppe von Menschen. Sie erzeugen auf eben diesen schon vorhandenen Grundlagen ihre eigenen Werte und Moralvorstellungen immer wieder neu und erhalten sie somit dauerhaft. Solche Grundlagen können beispielsweise bestimmte Sitten und Bräuche sein, eine eigene Sprache, eine eigene Weltanschauung oder eigene Glaubensvorstellungen.

Wenn in der politischen Öffentlichkeit von Kultur die Rede ist, ist damit allerdings häufig ein Zeitgeist gemeint. „Zeitgeist“ steht für die Denk- und Fühlweise einer bestimmten Zeit oder einer Generation wie beispielsweise die der „Flower-Power-Zeit“ in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren. Ein Zeitgeist lässt oftmals auch verschiedene politisch-relevanten Kulturen entstehen, soziale Gruppen oder Bewegungen, deren Mitglieder eine gemeinsame Leitidee und geistige Haltung verbindet. Zum Beispiel die 68er-Bewegung in Deutschland, die auch als Ausdruck einer gelebten Protestkultur bezeichnet werden kann.

Was ist eine Protestkultur?

Unter Protest versteht man heutzutage eine Form des sozialen Widerspruchs. Das Wort Protest kommt aus dem Spätlateinischen und bedeutet ursprünglich „Zeugnis ablegen“ oder auch „öffentlich bezeugen“. Ein Protest ist also eine öffentliche Meinungsäußerung, die gegen eine bestimmte Politik oder gegen bestimmte gesellschaftliche Geschehnisse gerichtet ist. Es gibt individuelle Proteste, Proteste von Gruppierungen oder auch Massenproteste in Form von Massendemonstrationen. Der Widerspruch wird öffentlich gemacht, um auf diese Weise auf die Politik oder auf die öffentliche Meinung Einfluss zu nehmen.

Von einer Protestkultur ist dann die Rede, wenn der Zeitgeist Protestbewegungen zulässt und lostritt. Wenn eine Gesellschaft stark genug ist, Kritik in Form von Protesten auszuhalten und diese Form der öffentlichen Meinungsäußerungen akzeptiert, ist in ihr eine lebendige Protestkultur existent, die sich in vielfältigen sozialen Widerstandsbewegungen zeigen kann. Je nachdem, wie eine Gesellschaft eine Protestkultur lebt, können die Proteste friedlich, gewaltfrei oder gewalttätig sein. Proteste können zu zivilem Ungehorsam und auch bis hin zu einer Revolution führen.

Die Etablierung einer Protestkultur innerhalb einer Gesellschaft deutet deswegen nicht auf eine Schwäche, sondern auf eine Stärke hin. Nur eine Gesellschaft, die sich selbst vertraut, weil sie um ihre Stärken weiß, ist kraftvoll genug, eine Protestkultur dauerhaft auszuhalten. Existiert eine lebendige und diskursiv geführte Protestkultur, liegt eine soziale Revolution in weiter Ferne. Ignoranz hingegen schürt Hass und den Wunsch nach sofortiger massiver Veränderung.

Die Protestkultur in Deutschland

Im modernen Nachkriegsdeutschland konnte sich eine Protestkultur entwickeln, weil neue Generationen von jungen Menschen heranwuchsen, die zu einer kritischen Öffentlichkeit wurden. Eine wirkungsvolle Protestbewegung braucht ein konkretes Thema. Wichtige und bewegende Themen gab es und gibt es noch immer genug. Es braucht aber auch eine Symbolfigur, die für den konkreten Protest steht und hinter der sich die Protestierenden positionieren können.

Eine Protestkultur kann demokratiefördernd sein, wenn politisch oder gesellschaftlich notwendige Prozesse gefördert werden. Sie kann aber auch demokratiegefährdend sein, wenn sich Gruppen formieren, ohne demokratisch erworbene Mandate. Das sind Gruppen, die sich gegen gesellschaftliche Entwicklungen oder Ausrichtungen stellen und sich als „Repräsentanten“ behaupteter Mehrheiten ausgeben und daraus einen Anspruch auf grundlegende soziale Veränderungen formulieren.

Protestbewegungen entstehen in Krisen, und zwar dann, wenn keine gesellschaftlichen oder politischen Lösungen in Sicht sind. Forderungen von Protesten können nie vollständig umgesetzt werden. Es gibt aber in der deutschen Vergangenheit einige bedeutende gesellschaftliche Veränderungen, die auf die Protestkultur seit den 1960er-Jahren zurückgehen:

  • die außerparlamentarische Opposition (APO) in den Jahren 1964-1968 (Symbolfigur: Daniel Cohn-Bendict)
  • die 68er-Bewegung (Symbolfigur: Rudi Dutschke)
  • die Frauenbewegung der 1970er-Jahre (Symbolfigur: Alice Schwarzer)
  • die Partei „Die Grünen“, gegründet 1980 (Symbolfigur: Petra Kelly)
  • die Montagsdemonstrationen in der DDR 1989/1999 („Wir sind das Volk“)
  • die Freitagsdemonstrationen von Fridays for Future seit 2019 (Symbolfigur: Greta Thunberg)
  • das Aktionsbündnis „Letzte Generation“ (Aktivisten)

Die Protestkultur in Deutschland dreht sich eher um politische Themen, wenige um soziale Probleme, wie beispielsweise in Italien oder Frankreich. Die Themen Frieden, Frauenrechte und Geschlechtergerechtigkeit und Umwelt und Umweltschutz wurden in Deutschland durch die verschiedenen Protestbewegungen erfolgreich umgesetzt und führten zu nachhaltigen gesellschaftlichen Veränderungen. Alle Protestbewegungen nutzten die jeweils modernsten Kommunikationsmedien. In den 1960er-Jahren war es der Bildjournalismus, später das Fernsehen und heute sind es die Social Media im Internet.

Aktueller Ausdruck der deutschen Protestkultur: „Letzte Generation“

Es handelt sich um ein Bündnis von Aktivisten, die alle aus der Umweltschutzbewegung stammen. Ihr Ziel ist, mittels des zivilen Ungehorsams Druck auf die Bundesregierung auszuüben, um Maßnahmen gegen die Klimakrise zu erzwingen. Das Aktionsbündnis nennt sich Letzte Generation, weil sie sich als die letzte Generation sehen, die das Erdklimasystem noch retten kann. Es drohe die Überschreitung von Kippelementen, die es unmöglich machen wird, das Erdklimasystem und damit die Welt zu retten. Die Letzte Generation will verhindern, dass die Erde unbewohnbar wird.

Kampagnen des Aktionsbündnisses betreffen beispielsweise die Lebensmittelverschwendung mit deutschlandweit durchgeführten Container-Aktionen. Aus Supermarktmüllcontainern werden weggeworfene Lebensmittel gerettet und an Hilfsbedürftige verschenkt. „Containern“ gilt als Diebstahl, aus diesem Grund zeigen sich viele Aktivisten selbst an, um mediale Aufmerksamkeit auf dieses Thema zu lenken.

Weitere Aktionen sind Sperrungen von Autobahnzufahrten durch Sitzblockaden und Festkleben der Hände mit Sekundenkleber auf der Fahrbahn. Der Ausbau der Infrastruktur soll gestoppt und dadurch fossile Energieträger wie Erdöl, Erdgas und Kohle eingespart werden. Stattdessen sollen erneuerbare Energien gefördert und eine Mobilitätswende eingeleitet werden. Emissionen sollen reduziert, Wärmedämmung an Gebäuden verbessert und die Landwirtschaft soll nachhaltig werden. Ein demokratisch geloster Bürgerrat soll diesen Wandel einleiten. Die Bürger sollen selbst über ihre Zukunft entscheiden können. Einkommensstarke sollen an den Kosten beteiligt werden.

„Gelbwestenbewegung“ – Protestkultur in Frankreich

Bei der Gelbwestenbewegung handelt es sich um eine Bürgerbewegung, die überwiegend über die sozialen Medien organisiert wurde. Sie dauerte von November 2018 bis ins Frühjahr 2019 und fanden immer samstags statt. Es war eine Protestbewegung, die ursprünglich auf ein soziales Problem aufmerksam machen wollte und richtete sich konkret gegen die von der Regierung Emmanuel Macrons geplanten höheren Besteuerung fossiler Kraftstoffe, vor allem von Diesel. Später forderte die Bewegung unter anderem eine Senkung aller Steuern, eine Anhebung der Renten und des Mindestlohns.

Die Anhängerschaft reichte von extrem-nationalistisch bis zu anarchistisch. Die Gelbwestenbewegung hatte kein offizielles Programm und keinen offiziellen Sprecher. Die Proteste waren häufig gewalttätig und gingen mit Krawallen und Brandstiftungen einher. Initiiert wurde die Bewegung durch eine Online-Petition der ehemaligen Bankangestellten Priscillia Ludosky.

Gefordert wurden von den Unterzeichnern der Petition beispielsweise mehr direkte Demokratie durch die Einführung eines Bürger- oder Volksinitiativen-Referendums für die Verabschiedung von Gesetzen durch Volksentscheide in Umgehung des Parlaments, wie es in ähnlicher Form in der Schweiz praktiziert wird. Aus der Petition erwuchs eine Massenbewegung mit Zehntausenden von Demonstranten.

Im April 2019 reagierte die Regierung mit einigen innenpolitischen Maßnahmen, die der Versöhnung zwischen Stadt und Land dienen sollten: stärkere Dezentralisierung, mehr lokale Bürgerbeteiligung, Stopp der Schließung von Krankenhäusern und Schulen auf dem Land. Die Protestbewegung wurde zu anfangs von der Mehrheit der französischen Bevölkerung befürwortet. Die zunehmende Radikalisierung führte aber zu einer rückläufigen Unterstützung.

Die Gelbwestenbewegung hatte nicht nur in Frankreich innenpolitische Erfolge zu verzeichnen. Sie war auch Vorbild für Protestbewegungen in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern, beispielsweise in Belgien, Italien, Portugal, Irland, Taiwan, Ägypten, in der Türkei und in Israel.

Welche historischen Protestbewegungen veränderten Deutschland?

Protestbewegungen gab es schon in früheren Zeiten, sie endeten häufig in Revolutionen, so auch die Französische Revolution 1789-1799. Auch diese Protestbewegung hatte soziale Ursachen. Es ging um die Abschaffung des absolutistischen Ständestaates und um die Umsetzung und Einhaltung von Menschenrechten. Die Französische Revolution hatte nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa tiefgreifende gesellschafts- und machtpolitische Veränderungen zur Folge. In Frankreich kam es im Anschluss an die Revolution zu einer grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft:

  • zunächst ging es um bürgerliche Freiheitsrechte (1789-1791)
  • dann kam es zur Errichtung einer Republik mit einer Revolutionsregierung, die radikaldemokratisch und mittels Terrors die „Feinde der Revolution“ verfolgte und unter die Guillotine brachte (1792-1794)
  • in der anschließenden Direktorialzeit regierte eine von besitzbürgerlichen Interessen bestimmte politische Führung mit dem Bürgerheer unter Napoleon Bonaparte als Ordnungs- und Machtfaktor (1795-1799)

Das Bürgerheer entstand aus den Revolutionskriegen und verhalf Napoleon Bonaparte später, sich zum Kaiser der Franzosen aufzuschwingen und Europa mit Krieg zu überziehen.

Die einsetzende Industrialisierung im frühen 19. Jahrhundert und die einhergehende Verarmung führten in Deutschland zu massiven sozialen Missständen. Die Armut weiter Teile der Bevölkerung war ein Merkmal des sogenannten Vormärz. Dieser Zeitraum erstreckt sich etwa von 1815 (Wiener Kongress und endgültiges Ende der Französischen Revolution unter Napoleon Bonaparte) bis zur sogenannten Märzrevolution im Jahr 1848. Die Protestbewegung war Teil von europaweiten Einheits- und Unabhängigkeitserhebungen gegen die Herrscherhäuser, die untereinander in ganz Mitteleuropa verwandtschaftlich verbunden waren.

In der Paulskirche in Frankfurt fand am 18. März 1848 eine verfassungsgebende Nationalversammlung statt. Die Deutsche Revolution 1848/1849 hatte ein Deutsches Reich mit einer Zentralregierung zum Ziel. Die Nationalversammlung sollte die Zentralregierung einsetzen und betrachtete sich als das Parlament des entstehenden Deutschen Reiches. Die Revolution wurde niedergeschlagen und ihre Anhänger verfolgt. Sie flohen ins europäische Ausland, nach Australien und in die USA, wo die geflüchteten Einwanderer auch als „Forty-Eighters“ bezeichnet wurden.

Die APO als Protestkultur der 60er Jahre

In der Bundesrepublik Deutschland der 1960er-Jahre gab es eine bedeutende außerparlamentarische Opposition, die sogenannte APO. Diese Protestbewegung ging von den Universitätsstädten aus und erreichte 1967/1968 ihren Höhepunkt. Aus ihr erwuchs die studentische 68er-Bewegung. In den 1980er-Jahren etablierten sich außerhalb der Parlamente die „Autonomen“. Ihnen ging es um Mieterrechte, Anti-Atomkraft und internationale Solidarität. Im Jahr 1980 wurde die Partei „Die Grünen“ gegründet, die als eine Art Gegenbewegung zur APO den parlamentarischen Weg ging.

Heute ist die Protestkultur in Deutschland gesellschaftlich etabliert. Sie zeigt sich in vielen Bewegungen, etwa in den Protesten gegen Stuttgart 21, die durchaus als Volksbewegung bezeichnet werden können. Auffallend ist, dass es den parlamentarischen Parteien immer weniger gelingt, die Belange der Bevölkerung aufzugreifen und umzusetzen. Die außerparlamentarische Opposition sieht eine starke Entfremdung von Wählerschaft und Parteien.

Die internationale Studentenbewegung der 1960er-Jahre und die 68er-Bewegung haben große soziale Veränderungen angestoßen – in der Bundesrepublik Deutschland und weltweit. Sie bewirkten eine neue politische Kultur. Was heute selbstverständlich erscheint, wurde schwer erkämpft:

  • Teilhabe von Minderheiten am öffentlichen Leben
  • sich verändernde Geschlechterrollen
  • öffentliche Bekenntnisse zur Homosexualität
  • Bildung einer außerparlamentarischen Opposition
  • Gleichberechtigung von Mann und Frau
  • Erneuerung der Kirche („Befreiungstheologie“ und „Theologie der Armen“
  • eine weltweit fortschreitende Demokratisierung

Welchen Einfluss hatten die historischen Protestwellen auf die heutige Protestkultur?

Heute ist die Rede von der Generation Global. Um die globalen Probleme und Herausforderungen zu lösen, ist nationales Denken zu engstirnig. Eine der größten Jugendbewegungen aller Zeiten ist Fridays for Future. Es sind die jungen Menschen der Generation Global, die auf der Grundlage nationaler, historisch entstandener Protestkulturen eine globale Protestkultur etablieren. Sie nutzen das Internet zur Verbreitung ihrer Ideen und Lösungsvorschläge und zur Organisation von Protesten.

Die Digitalisierung hat eine Globalisierung der Protestkultur des 21. Jahrhunderts ermöglicht. Weltweit erheben sich junge Menschen – quasi auf Knopfdruck oder konkreter auf Mausklick – gegen soziale Ungerechtigkeiten („Arabischer Frühling“) und für den Umweltschutz zur Rettung der Welt, wie wir sie kennen.


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