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5 psychologische Ansätze um Hilfeverhalten zu fördern und prosoziales Verhalten zu integrieren


Im Sinne eines altruistischen Menschenbildes sollten wir eigentlich immer jemandem helfen, wenn die Situation danach verlangt. Die meisten denken vermutlich von sich, dass sie im Falle eines Unfalls ohne zu zögern helfend eingreifen würden. Doch so nobel dieser Vorsatz auch ist, wird er dennoch nicht in jedem Falle umgesetzt. Denn es gibt etliche Gründe, warum wir anderen nicht helfen.

Die wissenschaftliche Psychologie untersucht, wieso wir helfen und welche Faktoren auf das Hilfeverhalten bzw. Hilfsbereitschaft einwirken.

Dazu zählt beispielsweise die Verantwortungsdiffusion. Je mehr Menschen einen Notfall beobachten, desto unwahrscheinlicher ist es, dass dem Opfer geholfen wird. Bei einer großen Anzahl von Zeugen, denkt sich jeder, dass schon jemand anders eingreifen wird. Das eigene Verantwortungsgefühl sinkt mit der steigenden Zahl der anderen Anwesenden.

Doch auch Zeitmangel kann die Hilfewahrscheinlichkeit herabsetzen. Versuchst du gehetzt noch deinen Bus zu erwischen, bemerkst du eine Notsituation unter Umständen nicht einmal. Deine Aufmerksamkeit befindet sich in dem Moment einfach woanders. Deine Stimmung kann ebenfalls deine Hilfsbereitschaft beeinflussen. Doch neben diesen Faktoren gibt es auch solche, die das Hilfeverhalten fördern.

Wie entscheiden wir, ob wir helfen?

Wem würdest du nach einem Sturz eher aufhelfen: Einem Mann mit Krücke oder einem, der nach Alkohol riecht?
Dieser Frage gingen die Psychologen Piliavin und Rodin am Ende der 1960er Jahre nach. In ihren „U-Bahn-Studien“ schleusten sie am Experiment beteiligte Männer in die Bahn und beobachteten, wie sich die Bedingungen „Krücke“ und Alkoholgeruch“ auf das Hilfeverhalten der Mitreisenden auswirkte.

Ein weiterer Aspekt war die Hautfarbe der vermeintlichen Sturzopfer. Es wurde beobachtet, wie häufig einem „Invaliden“ und einem „Trinker“ geholfen wurde. Stürzte der Mann mit Krücke so wurde ihm in 100 Prozent der Fälle geholfen. Die Hautfarbe machte hier keinen Unterschied. Bei der Bedingung „Trinker“ allerdings schon: Einem nach Alkohol riechendem Mann mit weißer Hautfarbe wurde ebenfalls in 100 Prozent der Fälle wieder aufgeholfen.

Hatte der vermeintlich Betrunkene allerdings eine schwarze Hautfarbe, so wurde nur noch in 73 Prozent der Fälle geholfen. Auch halfen weiße Passagiere eher dem weißen Opfer und schwarze eher dem schwarzen. Wie es um die Hilfe für Fremdgruppenmitglieder bestellt ist, das sehen wir uns weiter unten im Text noch genauer an.

Hilfeverhalten ist eine psychologische Kosten und Belohnungsrechnung

Auf Basis ihrer Beobachtungen entwickelten die Forscher das sogenannte Erregung : Kosten – Belohnungs-Modell.
Dieses bestand aus zwei Komponenten: Einem Motivationskonstrukt und der kognitiven Entscheidungskomponente. Das Motivationskonstrukt steht für die Erregungskomponente im Modell, während sich der kognitive Teil mit der Berechnung von Kosten und Belohnung befasst.

Was heißt das?
Das ursprüngliche Modell nahm an, dass es in einer Notsituation zur Erregung bei den Beobachtern kommt. Je stärker diese Erregung ausfällt, desto unangenehmer wird sie. Um diese unangenehme Erregung abzubauen, ist eine Reaktion nötig. Wie diese ausfällt, ist von der Abwägung von Kosten und Belohnung abhängig. Es stehen sich dabei die beiden Optionen „helfen“ und „nicht helfen“ gegenüber. Beide gehen sowohl mit Kosten als auch mit Belohnungen einher. Wird Hilfe geleistet, stehen auf der Kostenseite der Verlust von Zeit, körperliche Anstrengung und möglicherweise auch die Gefährdung der eigenen Unversehrtheit.

Doch Hilfeverhalten kann auch auf unterschiedliche Arten belohnt werden. Schließlich werden dem sprichwörtlichen Retter in der Not Ruhm und Ehre zuteil, er erntet Lob und erfährt die Dankbarkeit des Notleidenden. Das alles führt zu einer Steigerung des eigenen Selbstwertes.

Welche Belohnungen und Kosten gibt es bei unterlassener Hilfeleistung?
Dem Ganzen gegenüber erscheinen die Belohnungen für eine unterlassene Hilfeleistung weniger verlockend. Zwar kann die eigene laufende Tätigkeit weiterhin ungestört ausgeführt werden. Doch auf der anderen Seite finden sich verschiedene Kosten. Denn ohne ein helfendes Eingreifen bleibt die unangenehme Erregung bestehen. Zudem droht Tadel und die mit dem Hilfeverhalten einhergehenden Belohnungen bleiben logischerweise auch aus.

Kurzum:
Wir sehen eine Situation, in welcher eine bestimmte Person Hilfe benötigt. Sofort rasselt in unserem Kopf eine Rechnung bzw. Gegenüberstellung von Kosten und Nutzen ab. Es entstehen Fragen, wie:

  • Welche Konsequenzen (Kosten) hat es für mich, falls ich nicht helfe?
  • Wenn ich helfe, wird es wahr genommen bzw. werde ich gelobt? (Nutzen)
  • Sind die Betroffenen danach dankbar und fühle ich mich selbst besser? (Nutzen)
  • Falls ich helfe, begebe ich mich selbst in eine Gefahrensituation? (Kosten) Diese Gefahrensituation kann durch falsch angewandte Wiederbelebung und deren Konsequenzen für den Helfenden entstehen. Aber auch einen Betrunkenen helfen, kann eine Gefahr bergen. Selbst einem Autofahrer den Weg zu beschreiben, stellt mitunter eine Gefahr dar.

Dann entscheiden wir, ob wir zur Hilfe bereit sind oder nicht.

Ursachenattribution und Empathie steigern das Hilfeverhalten

Doch es gibt auch ohne Hilfeverhalten Möglichkeiten, die unangenehme Erregung zu reduzieren.
Entweder zieht man sich aus der Situation zurück oder man interpretiert das Gesehene neu. Die Erregung schwindet, wenn man davon ausgeht, dass es sich nicht wirklich um eine Notsituation handelt.

Das überarbeitete Modell berücksichtigt neben den oben genannten Punkten noch die Annahme, dass die beschriebenen Prozesse gleichzeitig ablaufen. Das alte Modell ging noch von einem sequenziellen Ablauf aus, bei dem die Prozesse sich also der Reihe nach abspielten. Außerdem wurden Merkmale der Zuschauer und des Opfers einbezogen.

Aber sowohl die Ursachenzuschreibung als auch die Empathie für das Opfer beeinflussen das Hilfeverhalten der Zuschauer. Empfinden wir Empathie für die notleidende Person und sehen die Ursache des Unglücks als fremdverschuldet an, helfen wir wahrscheinlich. Ist uns das Opfer unsympathisch sinkt unsere Motivation zu helfen. Auch sind wir weniger zur Unterstützung bereit, wenn wir die Schuld für das Geschehen beim Opfer selbst vermuten.

Doch auch das aktualisierte Modell erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Extreme Notsituationen können den Prozess der Abwägung von Kosten und Belohnung außer Kraft setzen. Zu einem impulsiven Hilfeverhalten kann es kommen, wenn der Fokus allein auf dem Opfer liegt und die Erregung des Zuschauers sehr hoch ist. Ist eine unmittelbare Reaktion erforderlich, so tritt diese meistens auch ein.

Gruppenzugehörigkeit fördert die Hilfeleistung

Unsere Gruppenzugehörigkeit kann das Hilfeverhalten steigern oder hemmen.
Wenn wir uns einer bestimmten Gruppe zugehörig fühlen, so helfen wie den Mitgliedern unserer eigenen Gruppe in der Regel eher als Angehörigen einer Fremdgruppe.

Denn das Modell der gemeinsamen Eigengruppe nimmt verschiedene Vorteile an, wenn Mitglieder unterschiedlicher Gruppen sich als Mitglieder einer übergeordneten Gruppe ansehen. Die Feindseligkeit zwischen den Einzelgruppen nimmt ab, auch die gegenseitige Abwertung ist weniger präsent. Zudem soll dadurch das prosoziale Verhalten gesteigert werden.

Experimente mit Fußballfans konnten dieses Modell unterstützen. Wurden Versuchsteilnehmer gefragt, welche Mannschaft sie favorisierten, zeigte sich anschließend eine geringere Hilfewahrscheinlichkeit gegenüber den Fans einer anderen Mannschaft. Wurde allerdings lediglich danach gefragt, ob sie Fußball-Fans seien oder nicht (also ohne die explizite Frage nach einer Mannschaft), dann halfen sie anderen Fußballfans häufiger als Nicht-Fans.

Die Teilnehmer der Studie sahen sich nicht als Fan eines bestimmten Vereins, sondern als Fußball-Fans allgemein an. So verschob sich das Hilfeverhalten von der Eigengruppe „Fan von Verein X“ auf die übergeordnete Eigengruppe „Fußball-Fan“. Die Person ohne eine Vorliebe für Fußball hatte in beiden Fällen das Nachsehen.

Bieten wir Fremdgruppen generell weniger Hilfe an?

Wenn es um das Thema „Hilfe für Fremdgruppen“ geht, ist die Sachlage nicht leicht zu beschreiben.
Eine Bevorzugung der Eigengruppe ist eher die Regel als die Ausnahme und so ist die Hilfe für ein Fremdgruppenmitglied auch unwahrscheinlicher als für ein Eigengruppenmitglied. Doch die Befundlage in der Forschung ist zu diesem Bereich nicht einheitlich. Denn teilweise erhalten Fremdgruppenmitglieder sogar mehr Hilfe als Eigengruppenmitglieder.

Doch wie ist das zu erklären?
Die widersprüchlichen Befunde zur Eigengruppenbevorzugung könnten verschiedenen Motiven zugrunde liegen. Zum einen könnte es im Allgemeinen um die Verringerung der unangenehmen Erregung gehen, welche bereits oben erwähnt wurde. Allerdings könnte auch zum anderen der Wunsch bestehen, von anderen Anwesenden nicht als vorurteilsbehaftet bewertet zu werden.

Gehört die in Not geratene Person einer Minderheit an, könnte diese mit Vorurteilen konfrontiert sein. Um zu zeigen, dass man diese Vorurteile nicht vertritt, hilft man dieser Person kurzerhand. Nichtsdestotrotz kann dem Opfer mit einer Fremdgruppenzugehörigkeit natürlich auch Hilfe verweigert werden.

Eigengruppen-Einschluss und Eigengruppen-Norm um das Hilfeverhalten zu fördern

Um dennoch ein Hilfeverhalten in anderen zu fördern, können verschiedene Strategien eingesetzt werden.
Eine Studie zum Widerstandsverhalten Bulgariens gegen die nationalsozialistische Deportation der Juden zeigt Beispiele hierfür auf.

Aus historischen Unterlagen wurde deutlich, dass die damalige politische Elite rhetorische Methoden einsetzte, um jüdische Mitbürger zu schützen. Einerseits wurde zum Eigengruppen-Einschluss gegriffen. Wurde über Juden gesprochen, war nicht die Rede von „Rassen“, sondern es wurde auf die bulgarische Identität der bulgarischen Juden hingewiesen. Bei ihnen handelte es sich demnach nicht um eine andere Gruppe, sondern auch um Bulgaren.

Andererseits wurde an die Eigengruppen-Norm appelliert. Mit einer bulgarischen Identität gingen bestimmte Wertvorstellungen und Normen einher. Die Deportation von Juden widersprach den Normen dermaßen, dass sie als „unbulgarisch“ anzusehen war. Beide Strategien führten zu einer gesteigerten Solidarität der Bulgaren mit den Juden.

soziale Identität und Zuschaueffekt als Einflussgröße auf das Hilfeverhalten

Die Größe der Zuschauergruppe kann das Hilfeverhalten senken, doch die psychologische Beziehung zwischen Beobachtern und Opfer spielt auch eine Rolle.

Der sogenannte Zuschauereffekt mindert das Hilfeverhalten, weil sich die Verantwortung auf mehrere Beobachter verteilt. Das führt häufig dazu, dass erst spät oder gar nicht eingegriffen wird. Doch der Zuschauereffekt gilt nicht uneingeschränkt. So hat er stärkere Auswirkungen wenn es sich um Eigengruppen- statt um Fremdgruppenmitglieder handelt. Denn da die Gruppenzugehörigkeit einen Teil der sozialen Identität ausmacht, interagiert diese mit der Größe der Gruppe.

Ob wir jemandem helfen hängt zudem davon ab, in welcher psychologischen Beziehung wir zu dem Betroffenen stehen. Auch der Kontext und die Art des Hilfeverhaltens spielen eine Rolle.

  • Geht es um eine Geldspende oder eine Notsituation?
  • Empfinden wir Empathie für das Opfer und fühlen wir uns mit ihm verbunden?
  • Beobachten wir die Situation zusammen mit Fremden oder Bekannten?

Solche Faktoren beeinflussen die Wahrscheinlichkeit des Hilfeverhaltens.

Ein Experiment von Levine und Kollegen zeigte den unterschiedlichen Einfluss des Zuschauereffekts bei Frauen und Männern. Sowohl die weiblichen als auch die männlichen Versuchsteilnehmer sahen ein Video, in welchem es um häusliche Gewalt ging.

Diese Szenen sahen sich die Teilnehmer entweder allein oder in Dreiergruppen an. Die gemischten Gruppen überwogen dann entweder im Männer- oder im Frauenanteil. Zusätzlich gab es auch ausschließlich gleichgeschlechtliche Gruppen.

Nach dem Ansehen des Videos sollten die Teilnehmer sich dazu äußern, ob sie in so einem Fall eingreifen würden. Bei den Männern zeigte sich der klassische Zuschauereffekt. Sahen sie sich das Video allein an, gaben sie mit einer höheren Wahrscheinlichkeit die Absicht zu helfen an als wenn sie das Video in einer reinen Männergruppe gesehen haben. Frauen zeigten hingegen in einer reinen Frauengruppe mehr Hilfeverhalten, was dem Zuschauereffekt widerspricht.

In den gemischten Gruppen zeigte sich folgendes Bild: Waren Männer in der Gruppe in der Minderheit, gaben sie häufiger die Absicht eines Hilfeverhaltens an. Befand sich allerdings eine Frau in einer Gruppe mit zwei Männern, so gab sie mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit an, helfen zu wollen.

Was bedeutet das für die individuelle Hilfsbereitschaft?
Bei den Frauen scheint die Hilfebereitschaft daher zuzunehmen, wenn es sich bei den anderen Anwesenden ebenfalls um Frauen handelt und nimmt bei der Anwesenheit von Fremdgruppenmitgliedern (in dem Fall Männer) ab. Bei Männern verhält es sich offenbar genau umgekehrt. Da es sich bei den Gruppen hier um Männer und Frauen handelte, könnten die Unterschiede im Hilfeverhalten allerdings auch mit Aspekten der jeweiligen Geschlechterrollen und -stereotype zusammenhängen.

Wie lässt sich Hilfeverhalten und prosoziales Verhalten fördern

Ob wir helfen oder nicht, hängt zum Teil von unserer Kosten-Belohnungs-Bilanz ab. Sowohl Hilfeverhalten als auch die Unterlassung von Hilfe gehen jeweils mit Vor- und Nachteilen für die eigenen Person einher. Um die in einer beobachteten Notsituation im Zuschauer aufkommende unangenehme Erregung zu mindern, kann dieser entweder helfen, aus der Situation flüchten oder diese neu bewerten.

Das Hilfeverhalten ist wahrscheinlicher, wenn es sich beim Notleidenden um ein Mitglied der eigenen Gruppe handelt. Aber auch die soziale Identität hängt mit unserem Hilfeverhalten zusammen, kann jedoch positiv beeinflusst werden.

Werden Menschen zur Ausweitung ihrer Gruppenzugehörigkeit bewegt, so helfen sie auch Personen, die vorher noch zu einer Fremdgruppe gehörten. Eine übergeordnete Eigengruppenidentität kann das prosoziale Verhalten fördern und gleichzeitig Feindseligkeiten zwischen einzelnen Gruppen abbauen.

Zusammenfassung
Hier sind die 5 psychologischen Ansätzen zur Steigerung des Hilfeverhaltens:

  1. Die Aussicht auf Belohnung in Form von Lob und Anerkennung erhöhen
  2. Die Aussicht auf Kosten in Form von Tadel oder negativen Konsequenzen senken
  3. Gruppenzugehörigkeit fördern
  4. Eigengruppenidentitäten schaffen und ausweiten
  5. Norm- und Wertvorstellungen integrieren

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