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Psychologie der unterlassene Hilfe und Zuschauereffekt


Der Zuschauereffekt ist ein Phänomen, welches im Zusammenhang mit unterlassener Hilfeleistung erkannt wurde. Dieser Effekt wirkt sich sehr nachteilig auf das Hilfeverhalten von Zuschauern aus.

Wie?
Die Forschung zu den Gründen, warum Menschen anderen in Notsituationen nicht helfen, wurde durch den Mordfall an Kitty Genovese eingeleitet. Die Frau wurde 1964 in auf dem Parkplatz vor ihrer Wohnung in New York von einem Mann angriffen und von diesem auch später ermordet.

Obwohl sie um Hilfe rief und mehrere Nachbarn zumindest Teile des Verbrechens beobachten konnten, kam ihr keiner zur Hilfe. Auch die Polizei wurde anscheinend ebenfalls erst alarmiert, als es bereits zu spät war. Im Zuge der damit einhergehenden Entrüstung in der Bevölkerung wurden Gründe danach gesucht, wieso es zu so einem Fall von unterlassener Hilfeleistung kommen konnte. Allgemein stellte sich die Frage, ob ein moralischer Verfall zu diesem traurigen Umstand führte oder ob gesellschaftliche Entfremdung ursächlich war.

Die Psychologen Latané und Darley führten die Umstände auf die Anzahl der Zeugen zurück und stellten Forschungen zu den Mechanismen an, welche das Hilfeverhalten in Notsituationen hemmen. Welche Mechanismen das sind, wie sie auf das Hilfeverhalten wirken und wie der Fall aus heutiger Sicht zu bewerten ist, bringen dir die folgenden Absätze näher.

Zuschauereffekt ist ausschlagend bei unterlassener Hilfeleistung

Dieser Effekt wurde in der sozialpsychologischen Forschung mehrfach bestätigt und gilt als stabiler Befund. Beim Zuschauereffekt handelt es sich um ein Phänomen, bei dem sich die Wahrscheinlichkeit der geleisteten Hilfe mit der steigenden Zahl der Anwesenden verringert. Oder anders ausgedrückt: Je mehr Personen eine Notsituation beobachten, desto unwahrscheinlicher wird es, dass jemand eingreift.

Hierzu führten Latané und Darley mehrere Experimente durch. Eines bestand darin, dass die Probanden allein in einem Raum waren und über eine Gegensprechanlage an einer fingierten Gruppendiskussion teilnehmen sollten. Diese sollte sich um das Thema Alltagsstress drehen.

Zudem wurde den Probanden gesagt, dass der Versuchsleiter nicht zuhören würde. Angeblich deshalb, damit seine Anwesenheit die Diskussion nicht stört. In Wahrheit steckte allerdings der Gedanke dahinter, dass die Probanden im Notfall die Verantwortung nicht an den Versuchsleiter abgeben können. Außerdem wurden die Probanden informiert, dass jeder Gruppenteilnehmer nur zwei Minuten Gesprächszeit hat. Anschließend würde das Mikrofon abgestellt werden.

Welchen Einfluss hat die Gruppengröße auf das Hilfeverhalten?

Die Probanden konnten die anderen Teilnehmer also nicht gleichzeitig hören, da immer nur das Mikrophon eines Sprechers eingeschaltet war.

Unter den Teilnehmern befand sich ein „Opfer“, welches in Not geraten sollte. Dabei handelte sich um einen Vertrauten des Versuchsleiters, welcher den anderen Teilnehmern von seinen angeblichen epileptischen Anfällen berichtete. Er war also kein wirklicher Versuchsteilnehmer, sondern gehörte zum Experiment.

Im Laufe des Gesprächs täuschte dieser einen Anfall vor und es wurde die Zeit gemessen, wie lange es zum Eingreifen durch einen Probanden kam. Wenn nach sechs Minuten immer noch keiner den Raum verlassen und nach Hilfe gesucht hat, wurde das Experiment abgebrochen.

Die Gruppengröße war die unabhängige Variable in diesem Experiment. Diese Variable wird manipuliert, um die Auswirkungen auf die abhängige Variable (hier die Zeit vom vorgetäuschten Anfall bis zum Verlassen des Raumes) zu erfassen. Es wurden Gruppen mit zwei Personen, vier Personen und sechs Personen zusammengestellt. Nach dem Experiment wurden die Probanden über den wirklichen Zweck der Untersuchung aufgeklärt und füllten noch einen Fragebogen bezüglich ihrer Gefühle und ihrer Persönlichkeit aus.

Je größer die Gruppe, desto unwahrscheinlicher ein Eingreifen

Die Ergebnisse bestätigten die Annahmen der Forscher. Mit einer steigenden Gruppengröße dauerte es länger, bis jemand Hilfe leistete. Während bei Zweiergruppen (Opfer und ein Proband) in 100 Prozent der Durchläufe Hilfeverhalten gezeigt wurde, so waren es bei den Sechsergruppen (Opfer und fünf Probanden) gerade noch 62 Prozent.

Auch die Zeit vom vermeintlichen epileptischen Anfall bis zur Hilfeleistung stieg zusammen mit der Gruppengröße an. Das Mikrofon wurde nach zwei Minuten abgestellt. Bei den Zweiergruppen wurde in 85 Prozent der Fälle Hilfe geholt, noch bevor das Mikrofon ausgeschaltet wurde. Bei den Dreiergruppen waren es 62 Prozent und die Sechsergruppen kamen nur noch auf 31 Prozent. Das heißt, dass die Gruppengröße nicht nur die Wahrscheinlichkeit eines Eingreifens senkte. Gleichzeitig wirkt sich eine große Gruppe auch negativ auf die Dauer aus, bis es zu einem Hilfeverhalten kommt.

Entscheidungsmodell des Zuschauerverhaltens

Bevor es überhaupt zu einem Hilfeverhalten kommt, wägen die einzelnen Beobachter zunächst einige Faktoren ab. Daher ist auch vom Entscheidungsmodell die Rede. Dieses beinhaltet fünf Schritte, welche der Beobachter einer Notsituation durchläuft.

  1. Das Ereignis bemerken: Ohne das Bemerken einer Situation kann auch kein helfendes Verhalten gezeigt werden.
  2. Entscheiden, ob es sich um einen Notfall handelt: Wenn wir glauben, dass es sich nicht um einen Notfall handelt, greifen wir nicht ein.
  3. Über die persönliche Verantwortung entscheiden: Wir wägen auch ab, ob es in unserer Macht steht, zu helfen. Haben wir die nötigen Fähigkeiten? Was kann ich überhaupt tun, um zu helfen?
  4. Über die Art des Eingreifens entscheiden: Hier entscheiden wir uns, ob wir selbst helfen oder jemanden alarmieren. Wir können die Polizei rufen oder andere Verantwortliche hinzuziehen.
  5. Umsetzung: Sofern wir alle Prozesse durchschritten haben, setzen wir unser Hilfeverhalten auch wirklich in die Tat um.

Sobald die Entscheidung auf irgendeiner dieser Stufen negativ ausfällt, kommt es zu keiner Hilfeleistung.

3 Hemmende Prozesse, welche auf Notsituationen Dritter einwirken

Latané und Darley machten gleich mehrere hemmende Ursachen für ein Unterlassen von Hilfeleistung aus.
Dazu zählen die pluralistische Ignoranz, die Hemmung durch Publikum und die sogenannte Verantwortungsdiffusion. Alle drei schauen wir uns im Folgenden an.

1. Pluralistische Ignoranz

In Bezug auf die fünf Schritte im Entscheidungsmodell betrifft dieses Phänomen die zweite Stufe.

Wenn wir nicht allein Zeuge eines Notfalls, sondern von mehreren Menschen umgeben sind, achten wir in der Regel zunächst auf deren Reaktionen. Sofern diese nicht eingreifen, scheint es sich für uns auch nicht um eine Notsituation zu handeln. Wir interpretieren die Situation als weniger schwerwiegend und halten ein Handeln nicht für nötig. Ob wir selbst handeln oder nicht, wird also auch von den Reaktionen anderer Beobachter beeinflusst.

2. Verantwortungsdiffusion

Unser Urteil auf der dritten Stufe entscheidet darüber, ob wir uns selbst in der Verantwortung sehen.
Mit dem Begriff Verantwortungsdiffusion ist gemeint, dass sich die Verantwortung unter den Zuschauern aufteilt. Je größer die Anzahl der beobachtenden Personen ist, desto weniger sieht sich jeder einzelne verantwortlich.

Die Wahrscheinlichkeit zu helfen, sinkt somit mit der steigenden Größer der Beobachtergruppe. Das konnte auch das oben beschriebene Experiment zeigen. War ein Proband mit dem vermeintlichen Opfer allein, meldete er die Notsituation mit einer sehr viel höheren Wahrscheinlichkeit als wenn er Teil der Sechsergruppe war.

3. Hemmung durch Publikum

Die fünfte Stufe beinhaltet die Umsetzung der Hilfeleistung.
Hier greift allerdings auch die Hemmung durch das Publikum. Wenn wir in einer Gruppe sind, haben wir unter Umständen Angst vor den Bewertungen anderer. Immerhin könnte es sein, dass wir irgendetwas falsch machen und helfen dann lieber erst gar nicht. So entgehen wir der Blamage und werden nicht von den Umstehenden als unfähig wahrgenommen.

Dabei handelt es sich um die sogenannte Bewertungsangst. Dies ist eine erlernte Reaktion auf die Anwesenheit anderer bei einer Handlungsausführung. Sobald wir handeln, stehen wir plötzlich selbst im Mittelpunkt. Es ist allerdings von unserer Persönlichkeit abhängig, ob wir diese Beobachtung als motivierend oder einschüchternd empfinden. Dementsprechend kann ein Publikum nicht nur hemmend, sondern auch anspornend wirken.

Die genannten Prozesse wirken additiv und sind voneinander unabhängig. Das bedeutet, jeder Effekt wirkt auch ohne den anderen. Doch treffen zwei oder alle Phänomene zusammen, verstärken sie sich gegenseitig. Je mehr dieser Phänomene aktiv sind, desto unwahrscheinlicher wird das Hilfeverhalten.

Der Zuschauereffekt greift nicht immer

Der Zuschauereffekt ist ein gut untersuchtes und vielfach bestätigtes Phänomen, stößt aber auch an Grenzen.

Der Forschungsfokus sollte erweitert werden

Die Geschichte der untätigen Zeugen schränkt den Forschungsfokus ein.
Wenn sich die Forschungsfragen allein auf die Gefahren durch die Anwesenheit anderer Menschen ausrichtet, werden die potenziellen Vorteile übersehen.

Wir hatten ja bereits das Beispiel von der Hemmung durch ein Publikum. Zwar kann es zu einer Bewertungsangst kommen, welche eine unterlassene Hilfeleistung zur Folge hat. Doch trotzdem kann es – je nach Persönlichkeit des Handelnden – auch zum Einschreiten motivieren. Es könnten also auch noch weitere Vorteile in einer Ansammlung von Zuschauern verborgen liegen, die einfach noch nicht erforscht wurden.

Hohes Gefahrenpotenzial nimmt dem Zuschauereffekt seinen hemmenden Einfluss

Auch die Art der Notsituation scheint einen Einfluss zu haben.
So konnte mittlerweile gezeigt werden, dass der Zuschauereffekt in einigen Situationen nicht zum Tragen kommt. Ist der Notfall besonders schwerwiegend, scheinen die Effekte der Bewertungsangst oder die Verantwortungsdiffusion auszubleiben.

Sind die Effekte der hemmenden Prozesse doch nicht so stark?

Neuere Studien zeigten, dass der Einfluss der drei hemmenden Phänomene vielleicht geringer ist als ursprünglich angenommen.

Erklärt wird diese Beobachtung damit, dass ältere Untersuchungen eventuell zu unrealistische Szenarien einsetzten. Das könnte zu einem etwas verzerrten Bild vom Hilfeverhalten geführt haben, welches in seiner Intensität nicht der Realität entspricht.

Eine andere Vermutung ist die, dass das Wissen um den Zuschauereffekt mittlerweile in der Gesellschaft angekommen ist. Wenn die Menschen heutzutage wissen, dass die Gruppengröße das Hilfeverhalten hemmt, greifen sie bewusst trotzdem früher ein.

Falsche Aussagen über die Anzahl der Zeugen im Fall

Mittlerweile ist die oft beschriebene Anzahl der 38 untätigen Zeugen im Mordfall Kitty Genovese auch nicht mehr haltbar.

Es liegen Belege vor, dass einige Zeugen bereits recht früh die Polizei alarmierten. Allerdings schrieb diese dem Fall scheinbar zunächst keine besonders hohe Priorität zu, was deren spätes Eintreffen erklären könnte. Zudem konnten auch nicht alle Zeugen den Mord beobachten. Zwar fand der erste Angriff des Täters auf dem Parkplatz statt. Doch der Mord selbst ereignete sich im Treppenhaus, welches viele von ihren Fenstern aus nicht sehen konnten. Dennoch hat dieser Umstand die Forschung zu den Ursachen unterlassener Hilfeleistung stark vorangetrieben.

Noch etwas zur Hemmung durch Publikum:

Dieser Effekt wird durch die Überzeugung verstärkt, keine Hilfe leisten zu können.
Um diesem Gefühl an Unfähigkeit entgegenzuwirken, bieten sich entsprechende Trainings an. Diese ermöglichen den Erwerb nützlicher Fähigkeiten und eine Steigerung der eigenen Selbstwirksamkeit. Beides macht ein helfendes Eingreifen wahrscheinlicher.

Außerdem kann ein gestärktes Kompetenzempfinden auch das Verantwortungsgefühl wachsen lassen. Wenn dieses besser ausgeprägt ist, hat auch die Verantwortungsdiffusion einen weniger gravierenden Einfluss.

Fazit

  • Der Mordfall Kitty Genovese war der Anstoß für einen psychologischen Forschungszweig, der sich mit den Ursachen der unterlassenen Hilfeleistung befasst.
  • Die Psychologen Latané und Darley identifizierten drei Mechanismen, die das Hilfeverhalten hemmen: Verantwortungsdiffusion, Pluralistische Ignoranz und Hemmung durch Publikum. Alle drei gehören zum Zuschauereffekt und senken die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Zeugen helfend in einer Notsituation eingreift.
  • Ob wir helfen oder nicht, hängt auch von unseren Urteilen auf den einzelnen Stufen des Entscheidungsmodell des Zuschauerverhaltens ab. Dieses besagt, dass wir ein Ereignis erst einmal bemerken müssen und dann darüber entscheiden, ob es sich um eine Notsituation handelt. Wenn das der Fall ist, bewerten wir unseren Anteil der Verantwortung und überlegen uns anschließend die Art der Hilfeleistung.
  • Haben wir diese Schritte durchlaufen, kommt es zur Umsetzung des Hilfeverhaltens. Fällt die Entscheidung auf einer beliebigen Phase des Modells jedoch negativ aus, helfen wir nicht.
  • Um die Wahrscheinlichkeit des Hilfeverhaltens zu erhöhen, können spezielle Trainings in Anspruch genommen werden. Diese steigern das Kompetenzgefühl und die Mechanismen der Verantwortungsdiffusion sowie die Hemmung durch Publikum beeinflussen uns in einem geringeren Maß.

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