So werden Hypothesen und Theorien in Psychologie und Sozialwissenschaft quantitativ geprüft
Das quantitative Paradigma ist einer der Ansätze der Wissenschaftstheorie. Daneben existieren noch das qualitative Paradigma und das Multi-Method-Paradigma.
Was bedeutet das?
Diese Paradigmen unterscheiden sich in ihren Überlegungen und den Herangehensweisen in der Forschung. Der qualitative Ansatz generiert Wissen, indem hier aus Beobachtungen Theorien gebildet werden. Das quantitative Paradigma allerdings geht von der anderen Seite aus vor: Hier werden Theorien nicht aus Beobachtungen gebildet, sondern anhand von Beobachtungen geprüft.
Beim Mixed-Method-Paradigma wird eine Kombination aus dem qualitativen und dem quantitativen Ansatz angewendet. Doch wie läuft die Prüfung von Theorien im quantitativen Paradigma ab? Um die Abläufe von Forschungsprozessen etwas besser zu verstehen, schauen wir uns in diesem Artikel genau diese Frage einmal genauer an.
Inhalt
Wie verstehen deduktiv-nomologische Erklärungen die Realität?
Das Verständnis von Realität spielt in der Wissenschaftstheorie eine große Rolle.
Doch was genau ist eigentlich eine Wissenschaftstheorie?
Allgemein gesagt, beinhaltet die Wissenschaftstheorie alles rund um Forschungsmethoden, wissenschaftliche Annahmen oder die Wege zum Erkenntnisgewinn. Abhängig von der Disziplin gibt es auch verschiedene Wissenschaftstheorien. Die der Psychologie befasst sich hauptsächlich mit Fragen über das menschliche Verhalten und Erleben sowie deren Erforschungsmöglichkeiten.
Das quantitative Paradigma basiert auf dem Kritischen Rationalismus. Dieser geht auf Karl Popper zurück und beinhaltet ein theoriegeleitetes Vorgehen. Er liefert Angaben darüber, wie Theorien formuliert werden sollten. Poppers Blick auf die Dinge war der, dass Theorien nicht bestätigt werden können. Die Tatsache, dass eine Theorie durch Beobachtungen gestützt wird, reicht also nicht als Gültigkeitsbeweis aus.
Davon geht allerdings das qualitative Paradigma aus. Um den Unterschied zu erklären, soll das klassische Schwan-Beispiel dienen. Der quantitative Ansatz geht davon aus, dass es nur weiße Schwäne gibt, wenn bisher nur weiße Schwäne gesichtet wurden. Aus dem Beobachteten wird eine Theorie gebildet.
Der quantitative Ansatz hingegen versucht diese Theorie anhand von Beobachtungen zu prüfen. Es werden Daten gesammelt, also alle Sichtungen von weißen Schwänen. Doch selbst wenn bisher nur weiße Schwäne gesichtet wurden, sind schwarze Schwäne trotzdem nicht ausgeschlossen. Sobald ein schwarzer Schwan gesichtet würde, wäre die Theorie „alle Schwäne sind weiß“ also hinfällig.
Daten sind daher auch nicht mit der Realität gleichzusetzen. Vielmehr bilden sie nur einen Hinweis auf die Wahrheit. Nach Poppers Vorstellung ist eine Annäherung an die Vorstellung von Realität auch nur durch Falsifikation möglich: Da eine Theorie nie gänzlich bewiesen werden kann, ist sie trotz vorläufiger Bestätigung kein wirklicher Erkenntnisgewinn.
Dieser findet erst statt, wenn eine Theorie falsifiziert beziehungsweise widerlegt wurde. Im Schwanbeispiel würde die Theorie „alle Schwäne sind weiß“ kein Wissensgewinn sein, weil die Existenz schwarzer Schwäne nicht ausgeschlossen werden kann. Bei der Widerlegung der Theorie findet hingegen ein Erkenntnisgewinn und damit eine Annäherung an die Wahrheit statt.
Doch wie steht das quantitative Paradigma überhaupt zur Realität?
Daten sind keine Realität und auch Theorien bilden nicht exakt die Wirklichkeit ab, sondern sind lediglich Vermutungen über diese. In der Realität existieren allerdings Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge, anhand derer Theorien und Hypothesen geprüft werden können.
Hier greift der „modus tollens“. Dieser besagt, dass aus A logisch B folgen muss. Sofern B nicht zutrifft, trifft folglich A auch nicht zu. Übertragen auf die Theorieprüfung bedeutet das: Sofern eine Theorie zutrifft, muss auch die Prüfung der aus ihr abgeleiteten Hypothese das widerspiegeln. Widersprechen die aus einer Beobachtung gewonnenen Daten einer Hypothese, so ist auch die dazugehörige Theorie falsch. Doch um diesen Schluss ziehen zu können, muss eine Hypothese logisch richtig aus einer Theorie abgeleitet worden sein.
Der Kritische Rationalismus erklärt sich die Realität basierend auf dem sogenannten deduktiv-nomologischen Erklärungsmodell. Deduktiv bedeutet, dass vom Allgemeinen zum Speziellen vorgegangen wird. Die Theorie (das Allgemeine) soll anhand von empirischen Daten (das Spezielle) überprüft werden. Im qualitativen Ansatz wird andersherum verfahren. Hier geht es vom Speziellen hin zum Allgemeinen, also vom Beobachteten zur Theorie.
Dabei handelt es sich dann um eine induktive Schlussfolgerung und nicht um eine deduktive. Nomologisch bedeutet „aussagenlogisch“. Das bezieht sich auf die eben genannte Annahme, dass B logisch aus A folgt und A bei Nichteintreten von B falsch ist. Tritt besagter Fall ein, ist die Theorie also nicht haltbar. Das deduktiv-nomologischen Erklärungsmodell unterscheidet zwischen Explanans (das Erklärende) und Explanandum (das zu Erklärende). Was genau das nun wieder ist, soll folgendes Beispiel veranschaulichen.
Das Explanans ist eine allgemeine Gesetzesaussage. Sie ist also nomologisch und in den meisten Fällen auch kausal. Kausalität meint, dass eine Ursache einer Wirkung zeitlich vorausgeht und die Wirkung beziehungsweise der Effekt auch nur dieser Ursache zuzuschreiben ist.
Das Explanans ist daher ein kausales Gesetz und Teil einer Theorie. Diese könnte so aussehen, dass A und B gegeben sind und daraus C folgen muss. Auf eine konkrete Theorie angewendet, sieht das folgendermaßen aus: Die Theorie der symbolischen Selbstergänzung sagt aus, dass eine schwächelnde, jedoch dem Individuum wichtige Identität mit identitätsbekräftigen Symbolen kompensiert wird. Ist jemandem seine akademische Identität als Forscher also sehr wichtig, könnte er zu Statussymbolen oder beschönigenden Selbstbeschreibungen greifen, sofern seine Forscheridentität nicht sonderlich „stark“ ist. Das kann beispielsweise der Fall sein, wenn bisher keine seiner Studien veröffentlicht wurde.
Hieraus leitet sich nun eine prüfbare Hypothese, mit einer Wenn- (A und) und einer Dann-Komponente (C) ab. WENN dem Forscher seine akademische Identität viel bedeutet und gleichzeitig wenig Erfolg auf diesem Gebiet vorliegt, DANN greift er auf identitätsergänzende Symbole zurück. Das kann beispielsweise die explizite Nennung seines Titels in der E-Mail-Signatur sein oder ein Namenschild am Briefkasten, welches auf seine akademischen Titel hinweist. Die Dann-Komponente schließt dabei das Explanandum ein.
Wie werden im quantitativen Paradigma Daten erhoben und Hypothesen geprüft?
Um eine Theorie zu prüfen, werden zunächst Hypothesen aus ihr abgleitet.
Der quantitative Forschungsprozess besteht aus verschiedenen Phasen, die jeweils bestimmte methodische Entscheidungen beinhalten. Zunächst muss ein Untersuchungsdesign festgelegt werden. Hier stellt sich die Frage, wie die Daten erhoben werden sollen.
Die Methoden können Experimente im Labor sein oder auch Dokumentenanalysen. Experimente erlauben die Untersuchung von kausalen Zusammenhängen. Bei der Dokumentenanalyse werden beispielsweise Schriftstücke auf ihre Inhalte hin untersucht, um daraus Schlüsse zu ziehen.
Der nächste Schritt ist die Operationalisierung. Was soll gemessen werden? Hier werden die unabhängige Variable und die abhängige Variable festgelegt. Im Beispiel der Theorie der symbolischen Selbstergänzung könnten die Mails der Forschenden als abhängige Variable dienen. Wie oft weisen diese den akademischen Titel in ihren Signaturen auf? Die unabhängige Variable wäre der Erfolg der Forscher, also zum Beispiel die Anzahl der veröffentlichten Studien.
Dann folgt die Stichprobenziehung. Hier werden unter anderem der Umfang der Stichprobe und die Art und Weise durchdacht, wie man an die Teilnehmenden für die Stichprobe gelangen kann.
Im Anschluss an die Stichprobenziehung folgt die Datenerhebung. Es existieren verschiedene Möglichkeiten, Daten zu erheben. Zum Beispiel anhand von Fragebögen, Tests, Experimenten und so weiter. Es ist also ratsam, sich für die Forschungsfrage die passendste herauszusuchen.
Nach der Erhebung der Daten erfolgt deren Bereinigung. Es werden Daten aussortiert, die für die Studie unbrauchbar sind. Wurden die Daten zum Beispiel im Rahmen einer Fragebogenstudie erhoben, werden alle unbrauchbaren Fragebögen ausgesondert. Das können unvollständig oder falsch ausgefüllte Fragebögen sein.
Nach der Datenbereinigung kann das Datenmaterial ausgewertet und interpretiert werden. Die Auswertung erfolgt in der Regel anhand von Statistik-Softwareprogrammen.
Was ist mit statistischer Signifikanz gemeint?
Kann die Hypothese bestätigt werden oder nicht?
Um diese Frage zu klären, ist ein Blick auf die statistische Signifikanz nötig. Dabei handelt es sich um ein wichtiges Prüfkriterium im Rahmen der Hypothesentestung.
Ein Ergebnis gilt dann als statistisch signifikant, wenn die Irrtumswahrscheinlichkeit kleiner ist als das festgelegte Signifikanzniveau. Oder anders ausgedrückt: Eine statistische Signifikanz liegt vor, wenn ein überzufälliger Zusammenhang besteht. Dieser Zusammenhang zwischen der unabhängigen und der abhängigen Variable ist also nicht auf andere Umstände zurückzuführen.
Zu Beginn des Forschungsprozesses wird die Hypothese festgelegt. Genauer gesagt: Eine Nullhypothese und eine Alternativhypothese. Im Beispiel der Studie zur Theorie der symbolischen Selbstergänzung würde die Alternativhypothese einen Zusammenhang zwischen dem akademischen Erfolg des Forschers und dessen Rückgriff auf identitätsbekräftigende Statussymbole annehmen.
Die Nullhypothese hingegen nimmt keinen Zusammenhang zwischen diesen beiden Variablen an. Wenn die statistischen Ergebnisse für die Nullhypothese sprechen, wird die Hypothese verworfen. Die Gültigkeit der Theorie wird infolgedessen angezweifelt. Sofern die Alternativhypothese durch Daten gestützt wird, gilt die Hypothese und damit auch die Theorie als vorläufig bestätigt.
Die statistische Signifikanz ist zwar ein wichtiges, jedoch nicht das einzige Prüfkriterium. Auch die Effektstärke spielt eine Rolle. Diese gibt die praktische Relevanz der Ergebnisse an. Diese ist abhängig davon, wie die Erkenntnisse in der Praxis genutzt werden sollen.
Werden beispielsweise Fördermaßnahmen für Grundschulkinder verglichen, könnte sich eine teurere Maßnahme zwar als signifikant erfolgreicher als andere, kostengünstigere Methoden erweisen. Sofern sich die Leistungen der mit der teuren Maßnahme geförderten Kinder zwar signifikant, aber dennoch im Endeffekt nur geringfügig von den Leistungen der anderen unterscheiden, trägt dieser Umstand zur Entscheidung über das weitere Vorgehen bei.
Auch die Generalisierbarkeit sollte neben der Signifikanz bedacht werden. Vor allem bei Laborexperimenten stellt sich häufig die Frage, ob und inwiefern die hierbei gewonnenen Erkenntnisse auf Situationen außerhalb der künstlichen Laborsituation zutreffen.
Welche Erklärungsansätze zur Theorieprüfung und -entwicklung gibt es?
Bei der Prüfung von Theorien sind auch die Erklärungsansätze zu überdenken.
Unterschieden wird zwischen monokausalen und multikausalen Erklärungen. Die monokausalen Erklärungen gehen darauf zurück, dass ein Sachverhalt nur durch eine Ursache erklärt werden kann.
Diese Annahme greift allerdings nur bei Kausaleffekten, in denen alle anderen Bedingungen (mit Ausnahme der Ursache) identisch sind. Hier spricht man auch von der Ceteris-Paribus-Klausel. Bei Experimenten ist daher darauf zu achten, dass die Untersuchungsbedingen in allen Durchläufen exakt gleich sein müssen. Nur die unabhängige Variable wird manipuliert.
Der Effekt auf die abhängige Variable wäre demnach nur auf Manipulation der unabhängigen Variable zurückzuführen und die Kausalität wäre gegeben. Allerdings gelten Theorien mit monokausalen Erklärungen als zu vereinfacht, weil es in den seltensten Fällen nur eine einzige Ursache gibt.
Der multikausale Erklärungsansatz hingegen nimmt mehrere Ursachenfaktoren sowie deren Zusammenhänge untereinander ins Visier. Ein Zusammenspiel dieser beiden Aspekte soll einen Sachverhalt umfassender erklären. Allerdings widersprechen multikausale Erklärungen den Annahmen des Kritischen Rationalismus. Denn laut Popper würde die Betrachtung aller möglichen Ursachen nicht zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern zu unüberprüfbaren und idealistischen Weltbildern führen.
Wenn eine Theorie zu umfangreich wird, ist sich nicht mehr falsifizierbar und büßt somit an wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn ein. Dennoch finden sich multikausale Erklärungsansätze in der Psychologie und anderen Sozialwissenschaften, da der Mensch sich nicht auf einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge reduzieren lässt. Da die mit dem multikausale Erklärungsansatz einhergehenden Theorien meist sehr umfassend und daher schlecht zu prüfen sind, werden Theorien mittlerer Reichweite angestrebt. So soll eine Balance zwischen hochkomplexen, aber forschungsunpraktischen Theorien und Theorien mit zu geringem Infogehalt erreicht werden.
Letztere gehen zwar mit einem geringeren Prüfungsaufwand einher, haben dafür allerdings auch einen recht niedrigen Erklärungswert im Hinblick auf die zu untersuchenden psychologischen und sozialen Sachverhalte.
Neben monokausalen und multikausalen Erklärungen gibt es auch noch verschiedene unvollständige Erklärungsansätze. So liefern etwas nachträgliche Ad-hoc-Erklärungen keinen wirklichen Wissenszuwachs. Hier werden bei hypothesenkonträren Befunden einfach neue Ursachenfaktoren hinzugezogen, um die Theorie dennoch zu erklären.
Partielle Erklärungen finden sich dann, wenn eine Theorie einen Sachverhalt nur sehr verallgemeinert erklärt. Wird dann nur sehr selektiv ein kleiner Aspekt des Sachverhalts untersucht und empirisch bestätigt, bestätigt das noch nicht den gesamten Sachverhalt beziehungsweise dessen theoretische Grundlage.
Daneben existieren noch Erklärungen mit impliziten Gesetzen. Dabei wird die unabhängige Variable nur als sehr grobe Kategorie benannt, die aber noch mit vielen weiteren Faktoren verknüpft ist. Ein Beispiel wäre die Theorie, dass Frauen weniger an Technik interessiert seien als Männer. Dabei wird die Kategorie „Geschlecht“ als Ursache unterstellt und andere Faktoren außer Acht gelassen.