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Was bedeutet Schuldkultur: Definition und Bedeutung


Als Schuldkultur bezeichnet man das bewusste Ausleben einer Schuld in verschiedenen Facetten. In kleineren Personengruppen, wie der Familie oder der Sippe, schafft man dadurch Schuldgefühle, ein Umfeld des Schams, der Manipulation und der Überlegenheit. Denn die Erinnerung an die Schuld führt beim Schuldigen dazu, dass dieser das bestehende Ungleichgewicht – welches sich in der Schuld ausdrückt, mit Schuldgefühlen oder Ähnlichem ausgleichen wird. Dadurch kann der Schuldige mittels Schuldgefühl gelenkt, beeinflusst und manipuliert werden. In Staaten und Gesellschaften, welche eine bestimmte Mindestanzahl von Personen überschreiten, gelinkt diese Form der Schuldkultur nicht mehr. Stattdessen setzt man auf Symbole, Appelle und Ähnliches, um an die Schuld zu erinnern.
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Woher stammt die Schuldkultur

Der ursprünglich aus der amerikanischen Völkerkunde stammende Begriff „Schuldkultur“ wird fast immer in Gegenüberstellung mit dem Begriff „Schamkultur“ verwendet. Er ist bis heute umstritten. Der wichtigste Grund: Die amerikanische Ethnologin Ruth Benedict, die den Begriff „Schuldkultur“ 1946 im Rahmen einer kulturvergleichenden Studie über den „Nationalcharakter“ der Japaner und Amerikaner erstmals verwendete, hatte methodisch unsauber gearbeitet. Zudem hatte sie die kulturvergleichende Studie „Chrysanthemum and Sword“ im Auftrag der damaligen amerikanischen Regierung angefertigt, um deren strategische Interessen durch ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse zu bedienen.

Da Benedict zur Untersuchung des japanischen Nationalcharakters nie nach Japan gereist war und zudem Regierungsinteressen diente, entbrannte in der Wissenschaft ein Diskurs über die Frage, wie sinnvoll solche Begriffe überhaupt sind. Das Gegensatzpaar „Schuldkultur“ und „Schamkultur“ wird bis heute oft verwendet und fast immer gemeinsam angeführt. Wer sich seiner bedient, nutzt bewusst zwei emotionell aufgeladene, mit Geschichte überfrachtete und umstrittene Begriffe.

Der historische Hintergrund

Die amerikanischen Ethnologinnen Ruth Benedict und Margaret Mead verfolgten seinerzeit einen ähnlichen kulturanthropologischen Ansatz. Ihr ethnologischer Blick war geprägt von ihrem Lehrer Franz Boas, einem gebürtigen Deutschen.

Boas hat die Entwicklung der amerikanischen „Cultural Anthropology“ seinerzeit maßgeblich beeinflusst und geprägt. Es ging in den damaligen „Nationalcharakterstudien“ von Mead und Benedict um die Frage, mit welchen Normen und Regeln verschiedene Völker oder soziale Gruppen Einfluss auf das Verhalten ihrer Mitglieder nehmen. Die US-Ethnologen der damaligen Zeit wollten feststellen, auf wie viele unterschiedliche Weisen die Gesellschaften der Erde organisiert sind. So wollten sie herausfinden, wie Gesellschaften oder Subkulturen gemäß von außen installierter oder verinnerlichter Normen und Regularien funktionieren.

Margaret Mead unterschied seinerzeit interne und externe Sanktionen voneinander. Interne Sanktionen sind demnach Reaktionen, die aufgrund bereits verinnerlichter Normen oder Gewissensbisse erfolgen, ohne dass die Gesellschaft weiteren Druck ausüben müsste. Ein Normverstoß führe Mead zufolge zu einem schlechten Gewissen und Schuldgefühlen. Externe Sanktionen kommen hingegen von außen. Um eine Zurechtweisung durch andere zu vermeiden, verhalten sich Menschen demnach automatisch „richtig“ und den geltenden Normen angepasst, wenn sie in Gesellschaft anderer sind.

Im Zuge der vergleichenden kulturanthropologischen Studien, die Meads Studienfreundin Ruth Benedict auf Wunsch der amerikanischen Regierung über den japanischen und den amerikanischen „Nationalcharakter“ durchführte, bezeichnete Benedict 1946 Japan als eine Schamkultur und die USA als eine Schuldkultur. Sie summierte die vermeintlich verinnerlichten kulturellen Grundhaltungen bzw. den angenommenen Nationalcharakter beider Völker unter diesem Begriff.

Was bedeutet Schuldkultur: Definition und Bedeutung

Der Begriff „Schuldkultur“ wurde ursprünglich im Rahmen kriegsbedingter ethnologischer US-Studien geprägt. Die damaligen „Nationalcharakterstudien“ entstanden im Kontext damals verfolgter Ansätze der kulturvergleichenden amerikanischen Anthropologie (Cultural Anthropology) der Boas-Schule. Diese Studien entsprangen und entsprachen durchaus den strategischen Interessen der US-Regierung. Insofern muss man die Entstehung des Begriffs „Schuldkultur“ aus der historischen Perspektive betrachten.

Ruth Benedict gilt heute als Begründerin kulturvergleichender ethnologischer Studien im Kontext der amerikanischen „Cultural Anthropology“. Trotz ihrer umstrittenen Vorgehensweise und der daraus resultierenden Prägung der Begrifflichkeiten „Schuldkultur“ und „Schamkultur“ bei dieser Nationalcharakterstudie wird ihr wissenschaftlicher Beitrag zur amerikanischen Ethnologie heute anerkannt.

Der Begriff „Schuldkultur“ sollte seinerzeit herausstellen, nach welchen emotionellen Mechanismen, verinnerlichten Normen oder gesellschaftlichen Sanktionen eine Kultur funktioniert. Ruth Benedict erlebte nach der Veröffentlichung ihrer Arbeit scharfe Kritik. Man kritisierte unter anderem, dass sie sich von der US-Regierung habe bezahlen lassen und dadurch deren strategischen Interessen gedient habe. Wissenschaft sollte unabhängig von politischen Interessen bleiben. Ob sie es immer ist, ist eine andere Frage.

Manche Kollegen unterstellten Benedict, keinen unvoreingenommenen Blickwinkel auf die Japaner gehabt zu haben. Der lauteste Vorwurf lautete aber, sie habe lediglich aufgrund von Literaturstudien eine sogenannte „armchair anthropology“ betrieben, ohne je in Japan gewesen zu sein.

Ethnologische Feldforschungen in der untersuchten Ethnie waren damals aber noch kein wissenschaftlicher Standard. Die Forderung nach intensiver Forschung im erforschten Lande selbst stellte der britische Ethnologe Bronislaw Malinowski auf. Malinowski vertrat die Ansicht, dass man nur über eine Mischung aus Befragung und teilnehmende Beobachtung herausfinden könne, was die Kultur eines Volkes prägt. Literaturstudien galten jedoch 1946 – insbesondere unter so ungünstigen Bedingungen wie einem Krieg – als ausreichend.

Angeführt wurde außerdem: Zwar sei die Angst vor Beschämung in Japan tatsächlich ein verinnerlichter gesellschaftlicher Faktor. Dieser sei in den USA wesentlich schwächer ausgeprägt. Man könne die japanische Kultur aber deswegen nicht als kulturell minderwertiger oder grundlegend unterschiedlich ansehen.

Folgen der Schuld- und Schamkultur

Mit dem Diskus zur umstrittenen Begrifflichkeit von Ruth Benedict hätte dieses aus der amerikanischen Ethnologie stammende Begriffspaar eigentlich aus der Welt sein können. Das geschah aber nicht. Ohne den zeitgleich geprägten Gegenpart der „Schamkultur“ wurde und wird der Begriff „Schuldkultur“ bis heute kaum genutzt. Auch wenn man den Begriff „Schuldkultur“ heute recherchiert, wird er unweigerlich mit seinem Gegenspieler zusammen genannt.

1951 definierte der Oxforder Altphilologe E. R. Dodds diese beiden Begriffe erneut. Demnach sei die öffentliche Wertschätzung, nicht aber ein reines Gewissen oder Anstand als Charaktermerkmal definierend für die Schamkultur. Es sei nicht entscheidend, ob jemand sich tatsächlich schuldig gemacht habe. Vielmehr sei die Frage, welche Konsequenzen ein bestimmtes Verhalten für seine Reputation habe. Dodds zufolge gelte hingegen in Schuld-orientierten Kulturen die Sühnung einer Schuld als entscheidend. Das Gewissen und die gesellschaftliche Norm seien hier die entscheidenden Faktoren. Es ist jedoch fraglich, ob man diese beiden Begriffe tatsächlich so sauber voneinander trennen kann, wie eine Definition es verlangt.

Richtig ist vermutlich, dass Scham auch in vermeintlichen „Schuldkulturen“ existiert – und umgekehrt. Zudem befinden sich Gesellschaften und Kulturen permanent im Wandel. Gesellschaftliche Normen und Werte verschieben und verändern sich. Selbst wenn eine Kultur wie z. B. die deutsche stark vom Einfluss des Christentums geprägt ist, in dem der Schuldbegriff ein elementares Element ist, muss das nicht für alle Zeiten heißen, dass eine darauf bezogene und dominierende innere Orientierung stattfindet.

Betrachtet man die heutige Zeit, kann in Zweifel gezogen werden, dass die Deutschen in allen Aspekten einer Schuldkultur unterliegen. In Bezug auf den Holocaust könnte sie aber wohl als existent angenommen werden. Es liegt jedoch nahe, dass der Begriff „Schuldkultur“ auf einer unzulässigen Verallgemeinerung basiert.

Ruth Benedict hat es sich unter dem Druck der kriegsbedingten strategischen Interessen der US-Regierung methodisch wohl zu leicht gemacht. Entsprechend umstritten ist Benedicts Begriffspaar bis heute. Zu Recht. Die verwendete Methodik ihrer kulturvergleichenden Studie legt nahe, dass die daraus gewonnenen Erkenntnisse oberflächlich und pauschalisierend waren. Umso mehr erstaunt aber, dass der Begriff „Schuldkultur“ heute noch eine Relevanz hat. Die Frage ist jedoch, für wen und in welchem Kontext.

Warum wird auch heute noch von einer Schuldkultur gesprochen

Der Holocaust hatte einen entscheidenden Anteil daran, dass die Deutschen bis heute die kollektive Verantwortung dafür übernehmen, als Volk schuldig geworden zu sein. Dass dabei auch Scham im Spiel ist, versteht sich von selbst. Die Erinnerung an den Holocaust darf nicht verdrängt oder vergessen werden, mahnt nicht nur der amtierende Bundespräsident. Die letzten Zeitzeugen sprachen kürzlich in bewegenden Worten im Bundestag.

Doch viele junge Leute haben es satt, dauerhaft in einer „Schuldkultur“ zu leben. Sie sind der Ansicht, dass der Holocaust längst Geschichte ist und keine Relevanz mehr für das Selbstverständnis des modernen Deutschland habe. Die bundesrepublikanische Haltung der „Erinnerungskultur“ stößt auch vielen Rechtsnationalen und Neonazis sauer auf.

1994 nahm Buchautor Helmuth Lethen den umstrittenen Begriff in seiner „Verhaltenslehre der Kälte“ auf. Lethens Thema war der sehr persönliche Blick auf die Kultur der 68er Jahre. Lethen verwies dabei zwar auf die Problematik und die Entstehen des Begriffs „Schuldkultur“. Aber auch Lethens Verwendung des strittigen Begriffs ist nicht unumstritten geblieben. Das ist auch kein Wunder, denn der Begriff ist suggestiv und überfrachtet mit Emotionen.

Fest steht: Die Kultur eines jeden Landes ist weitaus komplexer als solche Begriffe erfassen können. Dennoch sind sich viele Deutsche in jeder Altersgruppe und Gesellschaftsschicht bewusst, dass Deutschland unter Hitler einen Krieg angezettelt hat. Millionen Juden und andere Menschen, die den Nazis missliebig waren, wurden damals vergast oder erschossen. Sie erfroren oder verhungerten elendiglich in einem KZ oder wanderten aus. Ob diese Geschehnisse und die als nationale Schuld in Erinnerung gehaltenen Ungeheuerlichkeiten aber zu einer Schuldkultur oder eher zu einer Erinnerungskultur geführt haben, ist sicher mehr als eine Untersuchung wert.


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