Selbstoffenbarung als Faktor der Beziehungsebene | Psychologie
Selbstoffenbarung (engl. self-disclosure) bzw. Selbstenthüllung ist ein Prozess, bei welchem ein Mensch vertrauliche Informationen über sich selbst preisgibt. Die Psychologie untersucht, welche Rolle dieser Prozess beim Eingehen von Liebesbeziehungen oder Freundschaften, bei der Stärkung von Eltern-Kind-Beziehungen oder dem Erhalt von Liebesbeziehungen spielt.
Wieso?
Manche Beziehungen halten ein Leben lang, andere haben sich nach wenigen Monaten bereits wieder erledigt. Wenn wir uns verlieben, strömt erst einmal ein Hormoncocktail durch unseren Körper und wir können von der anderen Person nicht genug bekommen. Wir befinden uns sprichwörtlich auf Wolke Sieben.
Doch was bleibt, wenn die Schmetterlinge im Bauch ausgeflogen sind? Was bewegt die Menschen auch dann noch an einer Beziehung festzuhalten, wenn die Leidenschaft nicht mehr Dreh- und Angelpunkt des Zusammenseins ist? Und noch viel wichtiger ist vielleicht die Frage: Was tun diese Menschen, damit die Beziehung lebendig bleibt? Denn wenn der Alltag sich einschleicht und die Leidenschaft abnimmt, kann es schnell öde werden.
Doch das ist nicht zwingend der Fall, denn es gibt psychologische Mechanismen, die eine beziehungserhaltene Rolle spielen. Im Folgenden wollen wir uns die Bedeutung der Selbstoffenbarung anschauen und das Bewusstsein für die Bedürfnisse des anderen. Beide Prozesse sorgen für die Entstehung und die Aufrechterhaltung von Vertrautheit, emotionaler Nähe und Intimität.
Inhalt
Bewusstsein für die Bedürfnisse des Partners
Zwei Punkte sind für eine Beziehung von großer Bedeutung.
Das ist einerseits ein Bewusstsein dafür zu haben, was der Partner braucht. Andererseits hat auch die Selbstenthüllung einen großen Anteil daran, wie sich eine Beziehung gestaltet. Doch letztere besprechen wir weiter unten im Text noch ausführlicher. Kurz gesagt: Mit Selbstenthüllung ist gemeint, dass wir mit unserem Interaktionspartner persönliche Informationen über uns selbst teilen, die wir nicht jedem erzählen würden. Wir machen uns ihm gegenüber also verletzlich, schaffen dadurch allerdings gleichzeitig auch emotionale Nähe.
Die Wirkrichtung von Bedürfnisbewusstsein und Selbstoffenbarung hängt von der Beziehungsart ab
Selbstenthüllung und Bedürfnisbewusstsein spielen zusammen.
Das wollen wir am Eltern-Kind-Beispiel erläutern. Diese Beziehung besteht auf der einen Seite aus der Sensibilität der Eltern für die Bedürfnisse des Nachwuchses und auf der anderen Seite aus der Selbstenthüllung des Kindes. Das Kind kann demnach seine Sorgen und Wünsche an seine Eltern richten, welche ein Bewusstsein dafür haben und sensibel darauf eingehen.
Da es sich hier um eine vertikale Beziehung handelt, sollte die Verteilung von Selbstoffenbarung und Bedürfnisbewusstsein auch nur in dieser Version stattfinden und nicht umgekehrt.
Ansonsten käme es zu einer Parentifizierung, also einer Rollenumkehr von Eltern und Kind. Hierbei legen die Eltern vor dem Kind eheliche Probleme offen oder laden sonstige Probleme bei ihm ab. Allerdings ist das Kind nicht in der Lage, sich um die elterlichen Konflikte zu kümmern. Außerdem fällt es auch nicht in seinen Aufgabenbereich, Eheprobleme seiner Eltern zu lösen oder sich deren finanziellen Sorgen anzuhören. Mit so einer Rollenumkehr geht eine enorme emotionale Belastung auf Seiten des Kindes einher, welche sich häufig auch in dessen späteren Leben noch negativ auswirkt.
So können sich beim Kind beispielsweise Ohnmachtsgefühle, der Zwang nach Perfektionismus oder auch ein vermindertes Selbstwertgefühl entwickeln. Nicht selten bilden diese Menschen kaum ein Gespür für die eigenen Bedürfnisse aus, da ihr Fokus immer nur auf den Problemen und Wünschen ihrer Eltern lag.
Mit einer vertikalen Beziehung (wie eben der Eltern-Kind-Beziehung) ist gemeint, dass sich Selbstenthüllung und Bedürfnisbewusstsein nur in einer bestimmten hierarchischen Reihenfolge abspielen. Anders verhält es sich beispielsweise bei Freundschaften oder Liebesbeziehungen, wo die Partner sich auf der gleichen Interaktionsebene befinden. Dort finden Selbstoffenbarung und Bedürfnisbewusstsein im gegenseitigen Austausch statt. Anders als bei der Eltern-Kind-Konstellation spricht man hierbei daher auch von einer horizontalen Beziehung.
Ein Bewusstsein für die Bedürfnisse des anderen zeugen von Wertschätzung
Warum ist es so wichtig, ein Bewusstsein für die Bedürfnisse des Partners zu haben und darauf auch sensibel zu reagieren?
Das ist recht einfach zu beantworten: Wenn wir jemanden mögen, möchten wir uns auch von dieser Person verstanden fühlen. Wir möchten, dass diese Person unser Selbst akzeptiert und wertschätzt, bevor wir persönliche Dinge über uns mit dieser Person teilen. Stellt sich dieses Gefühl ein, kann emotionale Nähe aufgebaut werden.
Allerdings kann es auch sein, dass wir uns jemandem öffnen und dieser vollkommen anders darauf reagiert als wir es uns wünschen. Unser Gegenüber könnte uns unterbrechen oder unaufmerksam sein. Noch schlimmer wäre es, wenn der Partner sich über unsere Anliegen lustig macht oder sie als belanglos abtut. Auch ein Versuch seitens deines Partners, dich zu ändern, kommt nicht gut an. Das führt eher dazu, dass du dich in Bezug auf dich selbst und auch hinsichtlich der Beziehung schlecht fühlst.
Finden wir keine Akzeptanz für unser Selbst auf Seiten des Partners, so verweigern wir eine weitere Selbstoffenbarung und die Beziehung wird unter Umständen beendet.
Wir überschätzen häufig die Sensibilität und das Bewusstsein des anderen für unsere Bedürfnisse
Interessanterweise ist es für die emotionale Nähe sogar wichtiger, dass wir unserem Partner diese Sensibilität unterstellen, als dessen tatsächliche Reaktion. Es kommt somit nicht unbedingt darauf an, ob der Andere sich für unsere Bedürfnisse interessiert, unser Glaube daran reicht aus – damit wir weiter an der Beziehung festhalten.
Das führt dazu, dass in Beziehung beide Partner die Sensibilität des anderen häufig überschätzen. Dadurch tendieren wir zu einem höheren Maß an Selbstenthüllung, was sowohl zu einer zunehmenden emotionalen Nähe als auch zu mehr Vertrautheit innerhalb der Beziehung führt. Dieser Trugschluss kann somit bewirken, dass die Beziehung inniger wird, obwohl die Ausgangslage gar nicht von sonderlich viel Bedürfnisbewusstsein geprägt war.
In der Psychologie spricht man dann von einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung. Dieses Phänomen tritt ein, wenn wir an einen bestimmten Umstand glauben und unser Handeln daran ausrichten. Die Handlungsweise bewirkt dann, dass der bisher nur geglaubte Umstand auch eintrifft.
Selbstenthüllung Emotionale Nähe und Vertrautheit
Doch was genau hat es mit der Selbstenthüllung auf sich?
Mit dem Begriff der Selbstenthüllung ist das verbale Preisgeben vertraulicher und persönlicher Informationen gemeint. Diese ist in so ziemlich jeder Form der Beziehung relevant und es ist zum Teil nicht mal wichtig, ob es sich um banale oder wirklich intime Informationen handelt. Der Austausch von Geheimnissen schafft emotionale Nähe zwischen den Interaktionspartnern und beide können ein Gefühl der Vertrautheit aufbauen.
Selbstoffenbarung stärkt eine bestehende Freundschaft – egal ob via Chat oder Face-to-Face
„Verbal“ beschränkt sich übrigens nicht nur auf die mündliche Weitergabe intimer Informationen.
Emotionale Nähe kommt natürlich zustande, wenn du mit deiner besten Freundin oder Freund in einem Café sitzt und ihr euch gegenseitig persönliche Dinge berichtet, die ihr anderen niemals anvertrauen würdet.
Doch Selbstoffenbarung kann auch schriftlich erfolgen. Da das Internet im Leben der meisten Menschen mittlerweile einen großen Teil des Alltags einnimmt, findet hierüber auch vermehrt der Austausch von persönlichen Informationen statt. Über E-Mails oder Messenger-Dienste erfolgt zum Teil eine noch stärkere Preisgabe von persönlichen Informationen. Vor allem Jugendliche geben sehr viel über soziale Medien preis, doch diese Art der Selbstoffenbarung ist eher weniger gemeint.
Die positiven Effekte der Selbstoffenbarung finden sich dann doch eher im schriftlichen Austausch zwischen denen, die bereits eine starke Freundschaft verbindet. Der digitale Weg der Selbstoffenbarung nimmt hier eher die Funktion der Aufrechterhaltung des Kontakts ein.
Die Aufwärtsspirale von Mögen und Selbstenthüllung
Einander zu mögen und die emotionale Nähe sind Grundvoraussetzungen dafür, dass eine Selbstoffenbarung überhaupt erst zwischen zwei Menschen stattfindet.
Gleichzeitig führt Selbstoffenbarung allerdings auch dazu, dass wir jemanden mehr mögen, was wiederum eine Zunahme der Selbstoffenbarung und somit der emotionalen Nähe und Vertrautheit zulässt. Die jeweiligen Faktoren können somit eine wechselseitige Zunahme bewirken.
Allerdings geben wir nicht unbefangen alles von uns preis. Wir wägen in jeder Beziehung ziemlich genau ab, was wir dem anderen erzählen möchten und was lieber nicht. Da nicht nur wir das tun, sondern auch unser Gegenüber, ist hier auch die Rede von einer Enthüllungsreziprozität.
Selbstoffenbarung sollte unter bestimmten Umständen sparsam eingesetzt werden
Unsere Selbstenthüllung sorgt allerdings nicht nur für eine engere Beziehung, sondern gibt auch dem Beziehungspartner ein gutes Gefühl.
Denn dieser weiß natürlich, dass wir persönliche Details nicht mit jedem x-beliebigen Teilen würden. Und sich in einer Beziehung als etwas Besonderes zu fühlen, ist eine menschliche Neigung. Daher wirkt sich die Selbstenthüllung auch positiv auf das Mögen aus.
Wie kommt es dazu?
Die Selbstenthüllung kann in zwei Arten unterteilt werden: Die generalisierte und die dyadische Enthüllung. Die erste Variante beinhaltet, dass wir so ziemlich allen Menschen gegenüber sehr viel von uns offenbaren. Zwar werden wir dann generell als sehr offene und authentische Persönlichkeiten wahrgenommen. Doch wirkt sich diese Offenheit nicht unbedingt positiv auf enge Beziehungen aus.
In Ehen oder generell in Liebesbeziehungen kann die generalisierte Offenbarung einen negativen Effekt auf die Beziehungszufriedenheit haben. Eine dyadische Enthüllung hingegen bezieht nur den Beziehungspartner ein. Das bringt nicht nur eine gewisse Exklusivität mit sich, sondern der Partner kann sich damit wieder als etwas Besonderes fühlen.
Die generalisierte und dyadische Form bezieht sich auch auf das Mögen. Was denkst du über eine Person, die mehrere hundert oder gar tausende „Freunde“ auf Facebook hat und von einer, bei der das nicht der Fall ist? Hier ist vom generalisierten Mögen die Rede. Häufig ist es so, dass wir Menschen mehr mögen, von denen wir glauben, dass sie vor allem uns allein (oder zumindest nicht noch etliche andere) mögen. Das würde dem dyadischen Mögen entsprechen. Wie bei der Selbstenthüllung liegt auch hier das Gefühl von Exklusivität und Besonderheit vor.
Wenn eine Person scheinbar einfach jeden mag, mögen wir sie im Umkehrschluss weniger. Das zeigte sich auch in einer Studie von Eastwick und Kollegen (2007), die den Effekt des Mögens beim Speeddating untersuchten.
Zusammenfassung
- Auf die Stabilität und die Dauer von Beziehungen wirken sich die Bedürfnissensibilität und die Selbstenthüllung bzw. Selbstoffenbarung aus.
- Beide Prozesse hängen untrennbar miteinander zusammen, wie es das Beispiel der Eltern-Kind-Beziehung zeigt.
- Welcher Prozess gezeigt wird und in welche Richtung dieser stattfindet, hängt von der Art der Beziehung ab.
- Bei einer vertikalen Beziehung liegt das Bedürfnisbewusstsein bei den Eltern vor und ist auf das Kind gerichtet, während dieses Selbstenthüllung in Richtung der Eltern zeigen kann.
- Bei horizontalen Beziehungen (zum Beispiel bei Freundschaften) finden beide Prozesse wechselseitig statt. Das Bewusstsein und die Sensibilität der Bedürfnisse des jeweils anderen Partners sind wichtig, um ein Gefühl der Wertschätzung entstehen zu lassen. Außerdem fühlen wir uns gleichzeitig auch verstanden, wenn unser Partner unsere Bedürfnisse anhört und ernst nimmt.
- Wenn wir jemanden mögen, dann geben wir uns mehr von uns persönlich preis. Damit machen wir uns verletzlich und signalisieren dem anderen, dass wir ihm vertrauen. Dadurch kann emotionale Nähe und Vertrautheit in einer Beziehung entstehen.
- Gleichzeitig mögen wir jemanden allerdings auch mehr, wenn diese Person sich uns anvertraut. Die Prozesse des Mögens und der Selbstenthüllung verstärken sich demnach gegenseitig und festigen die Beziehung.
- Es ist allerdings auch von Bedeutung, ob unser Interaktionspartner sich nur uns gegenüber öffnet oder so ziemlich jedem persönliche Details über sich erzählt. In diesem Fall hat die Selbstenthüllung einen eher negativen Einfluss auf unsere Beziehung, denn wir fühlen uns nicht mehr als etwas Besonderes innerhalb der Partnerschaft. Mit dem Gefühl von Exklusivität geht auch die emotionale Nähe verloren.