Individualpsychologie nach Adler: Merkmale, Definition und Bedeutung
Individualpsychologie ist neben der analytischen Psychologie, der Psychoanalyse und der Neopsychoanalyse eine weitere Schule bzw. Richtung der Tiefenpsychologie. Als Begründer der Individualpsychologie gilt Alfred Adler, welcher als Schüler Sigmund Freuds, dessen Arbeit weiterentwickelte und an verschiedenen Stellen vertiefte bzw. erweiterte.
Inhalt
Individualpsychologie: Definition und Bedeutung
Die Individualpsychologie ist eine gesonderte Schule der Tiefenpsychologie. Denn genauso wie die ursprüngliche Tiefenpsychologie bzw. die Psychoanalyse als dessen Vorreiter, sah Adler unbewusste Prozesse in der menschlichen Psyche als dynamischen und wichtigen Faktor.
Aber anders als die ursprüngliche tiefenpsychologische Lehre Freuds sah Adler den Menschen nicht als triebgesteuertes Wesen, welches lediglich durch Moral und Verhaltensnormen in seinem Verlangen gebremst wird. Stattdessen ist der Mensch als aktives Wesen zu verstehen, welcher sein Verhalten bewusst steuern und beeinflussen kann. Somit weist die Individualpsychologie bereits humanistische Tendenzen auf, wonach der Mensch sich entwickeln und aufsteigen kann.
Der Name „Individualpsychologie“ lässt vermuten, dass Adler den Menschen als isoliertes Wesen betrachtet hat und sich dadurch von der Sozialpsychologie abgrenzen wollte. Doch das Gegenteil ist der Fall. Denn laut Adlers Lehre ist der Mensch nur ein Teil einer Gesellschaft, welche ihn beeinflusst, lenkt und auf ihn einwirkt. Auf Adler geht die tiefenpsychologische Erkenntnis zurück, dass der Mensch ein primär soziales Wesen ist und dass psychische Fehlentwicklungen auch auf gesellschaftliche Probleme zurückzuführen sind.
Individualpsychologie: Wortherkunft
Der Name Individualpsychologie sollte eigentlich vermuten lassen, dass der Mensch isoliert betrachtet werden würde. Dies verfolgten die eigentliche Tiefenpsychologie bzw. Psychoanalyse. So sind, nach Freuds Menschenbild, lediglich der innere Konflikt zwischen angeborenen Trieb und anerzogener Moral von Bedeutung und äußern sich im menschlichen Verhalten bzw. Fehlverhalten.
Adler sah den Menschen als ein zielgerichtetes Wesen, welches ein bestimmtes Ziel anstrebt, was sich wiederum auf das menschliche Verhalten auswirkt. Dieses individuelle Ziel bzw. Zielgerichtetheit war Namensgeber für diese tiefenpsychologische Schule. Aber das Streben nach dem Ziel steht in unmittelbaren Zusammenhang zum sozialen Umfeld des Menschen.
Individualpsychologie am Beispiel
Ein Minderjähriger beginnt damit, Tabak zu rauchen. Wieso? Er möchte dadurch Anerkennung innerhalb seines Freundeskreises erlangen. Das Rauchen (Verhalten) ist lediglich eine Form, sein Ziel (Anerkennung) zu erreichen. Dieses Ziel ergibt sich aufgrund seines Freundeskreises (Gesellschaft) und seiner eigenen unbewussten Haltung (Tiefenpsychologie).
Somit sind vier Aspekte laut individualpsychologischer Anschauung von Bedeutung:
- Unbewusste Prozesse
- Ziele
- Gesellschaft bzw. soziales Umfeld
- Verhalten
Alle Aspekte müssen miteinander in Verbindung gebracht werden, um menschliches Denken und Handeln zu erklären. Der Mensch wird somit zu einer Einheit und keine Lebensäußerung kann isoliert betrachtet werden. Eine Krankheit oder psychische Fehlleistung wird demnach immer von allen vier Aspekten aus betrachtet und auf die Gesamtpersönlichkeit bezogen.
Individualpsychologische Lebensstil als Ausdruck der Aspekte
Laut Adler verfolgt jeder Mensch einen gewissen Lebensstil. Dieser Stil drückt aus, wie der Mensch seine individuellen Ziele anstrebt. Der Lebensstil wird durch die eigene Meinung über sich selbst und der äußeren Welt geprägt. Somit ist der Lebensstil – nach Individualpsychologie – ein einzigartiger (individueller) Weg nach dem eigenen (individuellen) Ziel zu streben, unter Berücksichtigung von eigenem (individuellen) Selbstbild und eigener (individueller) Weltanschauung.
Diese Individualität im Lebensstil hat ebenfalls alle vier Aspekte:
- Unbewusste Teile, welche – zum Teil – im individuellen Selbstbild und der Weltanschauung behaftet sind
- Ziele, welche sich als Streben im Lebensstil äußert
- Gesellschaft bzw. soziales Umfeld, welche sich ebenfalls im Selbstbild und dem Weltbild äußern
- Verhalten als Umsetzung des Lebensstiles
Der Lebensstil wird aus den menschlichen Anlagen bzw. Erfahrungen geprägt und geformt. Dieser wird bereits in der Kindheit ausgebildet und stellt die Einzigartigkeit des Menschen heraus.
Individualpsychologische Lebensstil am Beispiel
Der Minderjährige, welcher raucht – versucht Anerkennung zu bekommen. Dies ist sein Ziel und deshalb raucht er bzw. folgt diesen Lebensstil. Er glaubt, dass er dadurch sein Ziel erreicht – da sein Weltbild (Rauchen ist cool) ihm durch sein Handeln die gewünschte Anerkennung verspricht. Sein Selbstbild (ich muss rauchen, um cool zu sein) ergibt sich als Wechselwirkung zum Weltbild. Dieses Weltbild und dass daraus resultierende Selbstbild wurden bereits in der Kindheit angelegt, als wahrscheinlich Vorbilder ebenfalls geraucht haben.
Um das Rauchen als Lebensstil zu verstehen, müssen nun alle Aspekte berücksichtigt werden:
- Unbewusste Teile: Rauchende Vorbilder, welche das Kind als cool empfand, schaffen sein Weltbild.
- Ziele: gesellschaftliche Anerkennung im Freundeskreis
- soziales Umfeld: Laut Weltbild des Minderjährigen ist man cool, wenn man raucht. Will ich cool wirken (Selbstbild), muss ich rauchen.
- Verhalten: Ich will cool sein bzw. Anerkennung erfahren, deshalb rauche ich.
Der Kern der Individualpsychologie ist das Zielstreben aus der Minderwertigkeit heraus
Im Zentrum der Individualpsychologie steht das Streben nach einem gewissen Ziel. Dieses Ziel wird allerdings durch ein Minderwertigkeitsgefühl hervorgerufen. Und dieses Gefühl der Minderwertigkeit hat ihren Ursprung in der frühen Kindheit. Hier ist die Individualpsychologie wieder bei der alten tiefenpsychologischen Idee, dass alle Probleme des Menschen in dessen Kindheit entstanden sind.
Während der Kindheit, als die Psyche noch nicht reif war, erlebte diese gewisse Unannehmlichkeiten. Das Kind hatte ein Gefühl der Unzulänglichkeit, des Nicht-Genug-Seins oder der Unterlegenheit gegenüber seinen Bezugspersonen erfahren. Dadurch ergab sich das Gefühl, dass man nicht genug wert sei bzw. ein Minderwertigkeitsgefühl.
Dieses Gefühl ist völlig normal und nicht auf tyrannische Eltern zurückzuführen. Denn jedes Kind bemerkt, dass es gewisse Fertigkeiten nicht besitzt und bestimmte Tätigkeiten nicht umsetzen kann. Sobald das Kind allerdings bemerkt, dass diese Fähigkeiten andere gleichaltrige Kinder bereits haben – ergibt sich ein geringes Selbstwertgefühl.
Aber auch ein geringes Selbstwertgefühl kann überwunden werden. Denn durch die Fürsorge der Bezugspersonen wird dem Kind vermittelt, dass es gewisse Tätigkeiten noch nicht kann, aber bald dazu imstande sein wird. Anders ist es mit Eltern, welchem ihrem Kind das Gefühl geben, dass es gewisse Dinge niemals erreichen kann. Diese Kinder entwickeln dann ein Gefühl der Unterlegenheit, des „Nicht-Könnens“ und der Minderwertigkeit.
Der Minderjährige, welcher raucht – will nach individualpsychologische Sicht – lediglich Anerkennung, welche er in früherer Kindheit niemals oder zu wenig erfahren hat. Die Ursachen für Minderwertigkeitsgefühle sah Adler:
- in einer fehlerbehafteten Erziehung, welche unangemessene Kritik als Motivationshilfe für Ehrgeiz nutzen
- der Geschwisterkonstellation (Erstgeborener, Zweitgeborener, Nesthäkchen)
- der Vergleich mit anderen gleichaltrigen Kindern, welche zum Nachteil für den Betroffenen ausfiel.
- gesellschaftliche Benachteiligungen
- Schicksalsschläge und Misserfolgserfahrungen
Zusammenfassung
- Individualpsychologie geht auf den österreichischen Arzt und Psychotherapeut Alfred Adler zurück.
- 1907 publizierte Adler eine Studie über Minderwertigkeit, welche als Ansatz der Individualpsychologie gilt.
- Individualpsychologie gilt als besondere Schule der Tiefenpsychologie, da auch Adler den Ursprung der Minderwertigkeit in der Kindheit und im unbewussten Teil der Psyche vermutet.
- Die Individualpsychologie betrachtet allerdings den Menschen als soziales Wesen und deshalb aus verschiedenen Blickwinkeln.
- Aus der Minderwertigkeit, welches den Kern, des menschlichen Verhaltens bildet – erwächst der Wunsch diese zu überwinden. Deshalb verfolgt der Mensch gewisse Ziele, welche sich als sein individueller Lebensstil äußert.
- Dieser Lebensstil wird durch die Meinung des Individuums über sich selbst und seine Umwelt beeinflusst.