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Gemeinschaftsgefühl und Selbstwert laut Individualpsychologie


Das Gemeinschaftsgefühl ist nach Auffassung der Individualpsychologie das Kriterium, um eine gesunde Entwicklung des Menschen zu vollziehen. Alfred Adler, welcher der Begründer der Individualpsychologie ist, sah den Menschen als ein primär soziales Wesen.

Dieses Menschenbild war zur damaligen Zeit kein Neues und gesellschaftlich bereits etabliert gewesen. Doch in der wissenschaftlichen Psychologie, welche damals durch Freuds triebgesteuerten Menschenbild oder dem Black-Box-Typus der Behavioristen bestimmt war – wurde das soziale Umfeld des Menschen lange Zeit nicht berücksichtigt.

Durch Adler erhielt die soziale Ebene zuerst Einzug in die Tiefenpsychologie, aus der sich die Individualpsychologie als neue Schule entwickelt hat. Heutzutage ist die soziale Ebene aus keiner psychologischen Betrachtungsweise mehr wegzudenken.

Die Bedeutung des Gemeinschaftsgefühls für die Individualpsychologie

Laut Adler bedeutet Gemeinschaftsgefühl die Bereitschaft und Fähigkeit eines Menschen den Anforderungen der sozialen Wirklichkeit zu begegnen, zu entsprechen und deren Probleme zu bewältigen.

Was bedeutet das genau?
Der Mensch lebt mit anderen Menschen zusammen. Somit ist die reale Wirklichkeit des Menschen hauptsächlich eine soziale Realität. Jeder Mensch ist – zu jeder Zeit – von einer soziale Situation umgeben. Dies kann auf dem Schulhof sein, wo viele Kinder mit anderen Kindern spielen, am Arbeitsplatz, zu Hause oder im Internet. Der Mensch ist immer umgeben von anderen Menschen, zu denen er in irgendeiner Weise in Beziehung steht.

Selbst wenn man auf der Straße einen Unbekannten erblickt, dieser den Blick erwidert – ergibt sich eine Beziehung bzw. eine Verknüpfung zwischen zwei Menschen. Jede Situation, schon aufgrund der Massenbevölkerung, ist sozial – da immer mehrere Menschen beteiligt sind.

Jedes Individuum kann nun ein Gefühl dafür entwickeln, ob es sich zu einer Gemeinschaft – sei es Familie, Freundeskreis oder Arbeitskollegen – zugehörig sieht oder nicht. Ist dieses Zugehörigkeitsgefühl gegeben, fühlt der Mensch sich aufgehoben und sieht sich als wesentlichen Teil dieser Gemeinschaft. Dadurch ergeben sich weitere Stimmungslagen und Gefühle. Denn als wichtiger Bestandteil einer Gruppe ergeben sich dann bestimmte Werte, wie Selbstwert oder Eigenwert.

Wieso?
Nach individualpsychologischem Verständnis erkennt sich der Mensch in einer Gemeinschaft wieder und erkennt auch seinen Wert, welchen er in diese Gemeinschaft einbringt. Sieht er seinen gehaltvollen Beitrag, wird dies seinen Selbstwert anheben. Ein Mensch, welcher sich als unnützen Teil einer Gesellschaft sieht, kann demnach kein Selbstwertgefühl entwickeln.

Aber da kommt noch mehr…
Denn Selbstwert und Zugehörigkeitsgefühl bedingen einander. Der Selbstwert verändert nämlich die Innenschau des Menschen und wirkt sich auf sein Selbstbild aus. Nur ein Mensch mit einer gesunden Meinung über sich selbst, kann Fähigkeiten wie Selbstbewusstsein, Selbstrespekt, Selbstliebe oder Selbstachtung entwickeln.

Dem Menschen ohne Selbstwertgefühl stehen diese Fähigkeiten nicht zur Verfügung. Und nun tritt dieser Mensch auf eine soziale Gruppe und soll dieser Gemeinschaft beitreten, dort wohlmöglich aufsteigen oder Ähnliches. Dies kann dieser Mensch nicht, da er sich wohlmöglich – aufgrund seines Selbstbildes – nicht für würdig hält. Es kommt somit zu Eintrittsbarrieren für bestimmte soziale Gruppen, welche es dem Menschen mit ungesunden Selbstbild unmöglich machen, diesen beizutreten.

Somit kann sich ein Gemeinschaftsgefühl nur ergeben, wenn der Mensch einer bestimmten Gruppe angehört. Dieser Gruppe kann der Betroffene allerdings nur beitreten, wenn er ein bestimmtes Selbstwertgefühl hat. Und dieses Selbstwertgefühl ergibt sich erst, wenn dieser Mensch sich einer Gemeinschaft zugehörig fühlt.

Du erkennst die Dauerschleife, oder?
Für Menschen, deren Selbstwert aufgrund bestimmter Ursachen gestört ist, wird es unmöglich sein, sich einer Gruppe zuzuordnen. Dies verhindert wiederum ein Selbstwertgefühl aufzubauen, was die Grundlage für den Gruppenbeitritt ist.

Den Zusammenhang zwischen Selbstwert und Gemeinschaftsgefühl kann man im gesellschaftlichen Zusammenleben beobachten. Dazu das folgende Beispiel.

Individualpsychologischer Zusammenhang zwischen Selbstwert und Gemeinschaftsgefühl am Beispiel

Die Individualpsychologie liefert lediglich ein Modell, welches Prozesse der menschlichen Psyche verdeutlichen soll. Es hat somit Niemand das menschliche Gehirn aufgebohrt und die Zusammenhänge an den Nervenbahnen erkannt. Dennoch lassen sich Adlers Theorien auch am heutigen gesellschaftlichen Miteinander beobachten.

Zum Beispiel werfen einige Teile der Gesellschaft – Langzeitarbeitslosen und Sozialleistungsempfängern vor, dass sie zu faul zum Arbeiten sind. Weiterhin wirft man diesen Menschen vor, dass sie lediglich von Sozialleistungen, Arbeitslosengeld leben und es daher besser haben, als die arbeitende Bevölkerung.

Okay, ist das so?
Menschen, welche keinen Beitrag für die Gesellschaft leisten, leiden – laut Adlers Auffassung – an einem schlechten Selbstwertgefühl. Denn erst der Beitrag für die Gesellschaft sorgt dafür, dass man sich als wesentlichen Teil dieser Gemeinschaft wiedererkennt. Sobald man diesen Beitrag erbracht hat, erkennt man seinen Wert für die Gesellschaft und das eigene Selbstwertgefühl steigt.

Nun stellt sich die Frage, wieso diese Menschen nicht einfach arbeiten gehen und so einen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Diese Frage habe ich weiter oben schon beantwortet. Denn Langzeitarbeitslose leiden – aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung – an einem geringen Selbstwertgefühl. Dieses macht es für diese Menschen unmöglich, sich einer sozialen Gruppe – wie ihn der Arbeitsplatz bietet – anzuschließen.

Diese Menschen haben somit keine Angst vor Arbeit, sondern vor den Problemen – welche die neue soziale Umgebung bietet. Dies äußert sich dann in den Ängsten der Betroffenen. Sätze, wie: In deren Augen bin ich nur ein Sozialschmarotzer oder wie mich dort alle anschauen – bestätigen das geringe Selbstwertgefühl.

Die innerlichen Barrieren der Betroffenen sind so groß, dass sie Fluchtstrategien entwickeln, um sich keiner neuen sozialen Gruppe anschließen zu müssen. Denn die neue Gruppe bzw. die zukünftigen Arbeitskollegen bilden bereits eine Gemeinschaft und jedes Mitglied besitzt einen gewissen Status innerhalb der Gruppe.

Der dazustoßende Langzeitarbeitslose mit geringem Selbstwert sieht sich selbst als Gruppenmitglied mit geringstem Status. Er könnte somit weitere Erniedrigungen – durch alle anderen Gruppenmitglieder – erfahren. Und so verharren diese Menschen in ihrer Arbeitslosigkeit und können dieser sozialen Ungleichstellung nicht entfliehen.

Gemeinnützige Tätigkeiten und Selbstwert

In diesem Zusammenhang ist es auch nicht erstaunlich, dass viele Menschen ein Ehrenamt bekleiden. Denn diese Tätigkeiten zielen direkt auf den Beitrag für die Gemeinschaft ab und erhöhen somit unmittelbar das eigene Selbstwertgefühl.

Damit wird auch die Altruismus-Egoismus-Debatte neu entfacht. Denn ein Mensch, welcher sein Ehrenamt ausfüllt – sei es im Sportverein oder in der Stadtverwaltung – verfolgt insgeheim egoistische Interessen. Denn diese Tätigkeit ist zwar gemeinnützig, wirkt aber nur nach außen altruistisch. Denn in erster Linie soll diese Tätigkeit den Selbstwert der handelnden Personen erhöhen. Als Mittel zum Zweck dient hier der unentgeltliche Gemeinschaftsbeitrag und das dadurch entstehende Gemeinschaftsgefühl.

Individualpsychologischer Zusammenhang zwischen Zielen, Lebensstil und Gemeinschaftsgefühl

Das Menschenbild der Individualpsychologie stellt sich ein Individuum vor, welches sich entwickeln und nach Besserung streben kann. Den Kern für dieses Ideal bilden Ziele, welche sich der Mensch unbewusst steckt. Durch die Umsetzung dieser Ziele kann der Mensch psychisch reifen, innergemeinschaftliche Probleme bewältigen und in einer sozialen Gruppe aufsteigen.

Was heißt das?
Jeder Mensch verfolgt einen gewissen Lebensstil. Laut Individualpsychologie ist der Lebensstil des Menschen, sein Verhalten, welches seine Ziele darstellt. Falls jemand auf teure und schnelle Autos steht und diese kauft bzw. fährt, ist dies sein Lebensstil.

Aber der Lebensstil eines Menschen zielt immer auf das Gemeinschaftsgefühl und den damit verbundenen Selbstwert ab. Ein schnelles Auto drückt nämlich auch etwas über den Menschen aus, welcher das Auto fährt. Dies kann alles Mögliche sein und ist individuell unterschiedlich. Diese Unterschiede werden durch die Selbstsicht und Weltanschauung des Individuums geprägt, welches das Auto fährt.

So kann ein teures Auto den eigenen Status innerhalb einer Gemeinschaft erhöhen. Dann fühlt man sich besser, vielleicht sogar überlegen, gegenüber seinen Nachbarn. Das Auto dient somit primär dem Selbstwert und sekundär dem Gemeinschaftsgefühl, da beide in unmittelbaren Zusammenhang stehen.

Das Ziel, welches derjenige dann verfolgt ist Anerkennung. Und zwar Anerkennung von der Gemeinschaft. Dieses Ziel kann der Autofahrer allerdings nur entwickeln, falls vorher keine bzw. zu wenig Anerkennung verspürt wurde. Dies wiederum ist – laut Adler – auf ein Minderwertigkeitsgefühl zurückzuführen.

Der Mensch fühlt sich innerhalb einer bestimmten Gruppe als minderwertig, entwickelt dadurch Ziele (mehr Anerkennung), um dieses Gefühl aufzuheben. Und die Umsetzung dieser Ziele zeigt sich dann in seinem Lebensstil, in diesem Fall das Fahren von schnellen Autos.

Rauchen, Drogenkonsum und Alkoholmissbrauch bei Minderjährigen ist ebenfalls ein Lebensstil, welcher auf Anerkennung innerhalb einer Gemeinschaft (Freundeskreis) abzielt. Gleichzeitig kann es dazu dienen, sich von der Familie (andere Gemeinschaft) abzugrenzen und eigene Wege zu gehen.

Das Gefühl von Minderwertigkeit kann nur innerhalb einer Gemeinschaft entstehen, indem man sich mit anderen Menschen vergleicht. Ein armer Mensch kann sich somit nur arm fühlen, wenn es reiche Menschen um ihn herum gibt. Und auch ein Mensch, welcher sich dumm fühlt – kann dies nur erleben, solange es intelligentere Menschen gibt und er sich vergleichen kann.

Der ungesunde Selbstwert bzw. die Minderwertigkeit entsteht somit innerhalb einer Gruppe, indem sich der Mensch befindet und vergleicht. Das Drängen nach Gruppenzugehörigkeit dient somit lediglich die Minderwertigkeit zu überbrücken, wobei beide sich gegenseitig bedingen (siehe oben).

Laut Individualpsychologie gibt es im menschlichen Verhalten immer vier Aspekte, welche betrachtet werden müssen. Diese stehen im unmittelbaren Zusammenhang und drücken die Einheit der Persönlichkeit aus.

  • Ziel: Drang nach Gruppenzughörigkeit bzw. Gemeinschaftsgefühl
  • Verhalten bzw. Lebensstil. Die Umsetzung des Zieles, zB. Fahren des schnellen Autos
  • unbewusste Prozesse: der Vergleich mit anderen Menschen innerhalb der Gesellschaft und das Verspüren der Minderwertigkeit
  • Gesellschaft und soziale Gruppen: das unmittelbare Umfeld, welches die Minderwertigkeit hervorruft

Erst durch die Betrachtung aller Aspekte lässt sich, laut individualpsychologischer Sichtweise, eine Schlussfolgerung treffen. Aber – wie bereits mehrfach erwähnt – um das Ziel erreichen zu können, muss der Mensch ein Mindest-Selbstwertgefühl entwickelt haben.

Undankbare Arbeitslose wollen kein Teil der Gemeinschaft sein

Auch diese Zwischenrufe ertönen immer wieder in gesellschaftlichen Debatten. So gibt es tatsächlich Arbeitslose, welche scheinbar ganz bewusst keinen Beitrag leisten wollen.

Aber auch dies ist nur scheinbar so. Denn laut tiefenpsychologischer Sichtweise entwickelt der Mensch gewisse Abwehrmechanismen, welche als Barriere für den unbewussten Teil der Psyche dienen. Diese Mechanismen können Entfremdung, Verzerrung oder Verleugnung sein.

Ein Mensch, welcher keinen Beitrag zur Gemeinschaft erbringen will, leugnet somit sein Gemeinschaftsgefühl. Es scheint so, dass er dieses Gemeinschaftsgefühl nicht spüren will. Allerdings äußert sich dieser Drang auf andere Weise. Zum Beispiel vollbringen diese Menschen gemeinnützige Tätigkeiten oder stellen sich als Wortredner / Anführer für eine gewisse Gruppe heraus. Es geht diesen Menschen schon um Status, Anerkennung und der Überbrückung ihrer eigenen Minderwertigkeit.

Jedoch ist oftmals die Strategie in einer bezahlten Lohnarbeit die eigene Minderwertigkeit zu überwinden, zu schwierig umsetzbar. Denn eine ganz neue sozialen Gruppe, welche der Arbeitsplatz bietet und deren Gruppenmitglieder im Status über den Betroffenen stehen, bietet Gefahr den eigenen Selbstwert weiter zu erniedrigen. Um dies zu verhindern, leugnen diese Menschen ihr Zugehörigkeitsgefühl (einen Beitrag leisten) und lehnen Lohnarbeit ab.

Die Gemeinschaftstheorien der Individualpsychologie rufen natürlich weitere Fragen auf:

  • Können isolierte Flüchtlinge die deutsche Sprache lernen?
  • Wieso haben sozial benachteiligte Kinder schlechte Aufstiegschancen?
  • Warum fällt es Kinder aus bildungsfernen Familien schwerer zu lernen?
  • Warum sind sozial isolierte Menschen anfälliger für Verschwörungstheorien?
  • Wollen potentielle Attentäter lediglich einer Gemeinschaft angehören?

All diese Fragen kann man im Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsgefühl und Selbstwert klären, beobachten, deuten und Lösungen finden. Wo die Zivilgemeinschaft versagt, werden sich am Rand immer andere Gemeinschaften auftun, welche Gemeinschaftsgefühle versprechen und dadurch unbewusste Selbstwerterhöhungen anbieten.

Zusammenfassung:

  • Die Individualpsychologie sieht den Menschen innerhalb einer Gemeinschaft, in welcher er versucht individuelle Ziele umzusetzen, um ein Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln.
  • Dieses Gemeinschaftsgefühl ist wichtig, um die soziale Wirklichkeit zu meistern und Probleme zu bewältigen.
  • Das Gemeinschaftsgefühl entsteht erst, wenn der Mensch sich selbst als Teil der Gemeinschaft erkennt. Um dies zu erreichen, muss er seinen Beitrag innerhalb der Gruppe herausstellen.
  • Erst durch den Beitrag bzw. den Status, welchen der Mensch innerhalb einer sozialen Gruppe genießt, entsteht ein gesunder Selbstwert.
  • Um in eine Gruppe einzudringen, muss ein sogenannter Mindestselbstwert vorhanden sein, ansonsten entwickelt der Mensch gewisse Fluchtstrategien, bleibt sozial isoliert oder sucht andere Gruppen auf.

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