Was ist das kollektive Unbewusste nach Jung
Das kollektive Unbewusste ist – laut Carl Gustav Jung – ein psychischer Speicher, welcher von der gesamten Menschheit und über die komplette Menschheitsgeschichte hinweg – angesammelt wurde.
Wie geht das?
Die menschliche Entwicklungsgeschichte reicht bereits mehrere hundert Jahrtausende zurück. Seither kamen und gingen verschiedene Kulturen, Vorstellungen und Völker.
Haben die Erfahrungen unserer Ahnen noch einen Einfluss auf unser heutiges Leben? Evolutionstechnisch gesehen auf jeden Fall. Schließlich wurden die Gene derjenigen weitergegeben, die sich am besten ihrer Umwelt anpassen konnten.
Doch wie sieht es mit der Psyche aus?
Wenn es nach C.G. Jung geht, so haben wir alle das komplette Erbe der Menschheitsgeschichte in unserem Unbewusstsein. Wir blicken damit nicht nur auf eine gemeinsame Geschichte zurück, sondern teilen quasi dieselbe unbewusste Grundlage mit allen anderen Menschen.
Doch wie gelangte Jung zu dieser Überzeugung?
Schließlich ging Freud davon aus, dass es insbesondere unsere frühkindlichen Erfahrungen sind, die uns als Erwachsene noch beeinflussen. Bei ihm spielte also das individuelle Unbewusste die Musik. Und bei Jung ist nun plötzlich ein kollektives Unbewusstsein am Steuer? Was überhaupt darunter zu verstehen ist, wie sich das individuelle und das kollektive Unbewusstsein bei Jung unterscheiden und wie er überhaupt auf diese Annahme gekommen ist, schauen wir uns heute näher an.
Inhalt
Die Entstehung des kollektiven Unbewussten nach Jung
Jung war ein Träumer.
Seine Theorienentwicklung stützte Jung auf spirituelle Selbsterfahrungen. Im Zuge seiner Erfahrungen gelangte er zu dem Schluss, dass es eine kollektive unbewusste Dimension geben muss.
Diese Dimension soll die Quelle verschiedener Symbolbilder und Fantasien sein, welche er mit Merkmalen unterschiedlicher Epochen und Kulturen verglich. Träume spielten für ihn eine besondere Bedeutung bei der Exploration des Unbewussten.
Jung nahm an, dass das Ich-Bewusstsein eine bestimmte Aufgabe hat. Diese besteht darin, die Realität adäquat wahrzunehmen. Diese Erkenntnis erlangte er während seiner Arbeit mit Patienten, welche an Schizophrenie erkrankt waren.
Als Psychiater war Jung der Ansicht, dass die Wahnvorstellungen und Halluzinationen seiner Patienten auf ein geschwächtes Ich zurückzuführen seien. Ohne ein einwandfrei funktionierendes Ich-Bewusstsein verschwimmen die Grenzen der Realität und das Unbewusstsein kommt zum Vorschein.
Das ist auch im Schlaf der Fall. Während im Schlaf das Ich-Bewusstsein ausgeschaltete ist, werden die Ich-Grenzen durchlässiger. Im Traum erscheinen daraufhin Inhalte, Bilder und Symbole des Unbewussten.
Träume als theoretische Grundlage für das kollektive Unbewusste
Jung selbst schilderte einen seiner Träume, in denen er das kollektive Unbewusste erkundete.
In diesem Traum sah er sich selbst in einem Haus, welches aus mehreren Stockwerken bestand.
Zu Beginn fand er sich selbst im obersten Stockwerk wieder, welches mit dem damals aktuellen Inventar ausgestattet war. In dem darunter liegenden Stockwerk fanden sich bereits Möbel aus vergangenen Jahrhunderten wieder. Je tiefer Jung in seinem „Traumhaus“ hinabstieg, desto weiter schien er in der Menschheitsgeschichte zurückzugehen.
Nachdem er ein Stockwerk mit Relikten aus der Antike durchquert hatte, gelangte er schließlich in den Keller, welcher nur mehr einer Höhle glich. Hier fand er keine Möbel mehr vor, sondern nur noch alte Überbleibsel und Knochen von Menschen aus der Steinzeit.
Diesen Traum deutete er folglich als eine Art Diagramm, welches auf den ältesten menschlichen Kulturen aufbaut. Diese kulturellen Strukturen vermutete er nicht nur bei sich, sondern ebenso in jedem anderen Menschen. Sie müssten in einem kollektiven Unbewussten verankert sein.
Seinen Traum erklärte Jung als symbolischen Abstieg in immer tiefere Schichten den kollektiven Unbewussten, welche schließlich bis auf die evolutionären Anfänge des Menschen zurückgehen. In diesem Traum lag für Jung ein weiterer Beleg dafür, dass im Schlaf unbewusste Inhalte zum Vorschein kommen. Diese können sich sowohl auf das individuelle als auch auf das kollektive Unbewusstsein beziehen.
So interessant Jungs Schilderungen zum kollektiven Unbewussten allerdings auch sein mögen: Aus den eigenen Träumen psychologische Theorien abzuleiten, ist – wissenschaftlich gesehen – nicht haltbar. Daher stehen Jungs Annahmen heutzutage auch auf sehr wackligen und empirisch nicht gefestigten Beinen.
Wie unterscheidet die analytische Psychologie das individuelle vom kollektiven Unbewussten?
Anders als das individuelle Unbewusstsein ist das kollektive nicht persönlich erworben.
Als Psychiater erkannte Jung verschiedene, wiederkehrende Muster in den Wahnvorstellungen seiner schizophrenen Patienten und zog Querverbindungen zur Welt der Märchen und Mythen.
Als Ursache dieser gemeinsamen „Fantasiegebilde“ seiner Patienten vermutet er eine psychische Instanz, über welche alle Menschen gleichermaßen verfügen. Gleichzeitig liegt diese Instanz außerhalb des individuellen Bewusstseins.
Daher ging Jung davon aus, dass diese Form des Unbewussten vererbt sei. Mit seiner Annahme des kollektiven Unbewusstseins wendete er sich von den Freud´schen Annahmen ab. Freud hingegen lehnt Jungs Annahmen zu Archetypen und kollektivem Unbewusstsein nicht vollkommen ab.
Allerdings sah Freud in Jungs Theorien nur eine Verkomplizierung. Er selbst beschränkt sich daher auf die individuellen Erfahrungen, welche das Unbewusstsein prägen. Den kulturellen Aspekt Jungs lässt Freud demnach aus. Anders als Freud vermutet Jung ein tiefes gemeinsames Unbewusstsein, dass alle Menschen vereint.
Im kollektiven Unbewussten gelten Archetypen statt Verdrängung, Schatten und Persona
Anders als im individuellen Unbewusstsein spielen Persona und Schatten auf der kollektiven Ebene keine Rolle.
Stattdessen siedelte Jung hier verschiedene Archetypen an. Diese bestehen aus Bildern, Symbolen und Verhaltensweisen. Sie bilden so gesehen Urelemente in der menschlichen Psyche.
Um diese Archetypen – zum Beispiel dem Archetyp der Mütterlichkeit – bilden wir Erfahrungen, die mit der eigenen Lebensgeschichte, jedoch auch mit der jeweiligen Kultur zusammenhängen.
Diese Archetypen bilden nach Jung eine „organisierende Persönlichkeitsmitte“, welche von Freud abgelehnt wurde. Das kollektive Unbewusstsein ist mit verschiedenen Archetypen ausgestattet, welche in verschiedenen Lebensphasen jeweils vorherrschen und richtungsgebend sind.
Auch die Verdrängung von gedanklichen Inhalten ist im kollektiven Unbewusstsein nicht so relevant wie im individuellen. In individuellen Unbewussten bilden die verdrängten Inhalte den persönlichen Schatten, welcher als Gegenspieler der Persona gilt. Als Persona bezeichnet Jung „Masken“ welche unsere wahre Persönlichkeit überdecken. Wie haben verschiedene dieser Masken, da diese von unterschiedlichen Rollenanforderungen geprägt werden.
Im Gegensatz dazu ist das kollektive Unbewusste eher als ein Sammelsurium an kulturellen und psychologischen Erfahrungen zu verstehen, welches sich seit Beginn der Menschheitsgeschichte stetig weiterentwickelt hat. Diesem Ansatz nach zu folge, kommen wir nicht als unbeschriebenes Blatt auf die Welt, sondern tragen ein gewisses psychologisches Erbe in uns – und das nicht nur im biologisch-genetischen Sinne.
Das individuelle Unbewusstsein kann sich nur auf Grundlage eines kollektiven entwickeln
Das ist zumindest die Annahme Jungs.
In uns ist eine Art biologischer Bauplan verankert, nach welchem sich unsere körperliche Entwicklung richtet. In Bezug auf die Psyche vermutete Jung ein ähnliches Prinzip. Er ging davon aus, dass psychische Reifung nicht ohne eine gewisse Grundlage stattfinden kann.
Es müsse demnach auch einen psychischen Bauplan als Anlage geben, nach dem wir uns entwickeln. An dieser Stelle setzt seine Vorstellung vom kollektiven Unbewusstsein an. Seiner Ansicht nach verfügen wir im Augenblick der Geburt bereits über ein psychologisches Erbe, welches sich im Verlauf der gesamten, bisherigen Menschheitsgeschichte entwickelt hat.
Dieses kollektive Unbewusste kann ebenfalls verdrängte Inhalte aufweisen. Verdrängung ist allerdings keine zwingende Voraussetzung für dessen Bildung. Dennoch können bestimmte Inhalte im kollektiven Unbewusstsein landen, wenn diese Inhalte den aktuell in einer Epoche vorherrschenden Vorstellungen von Normen und Werten widersprechen.
Diese verdrängten Inhalte gelangten nach Jungs Ansicht allerdings zunächst in einer Art Zwischenschicht. Daraus ergibt sich ein Schichtenmodell des Unbewussten. Dieses beinhaltet einerseits die individuellen Bereiche des Unbewussten, daneben allerdings auch das kollektive Unbewusstsein beginnend mit einer familiären Stufe.
Dazu zählen weiterhin das Unbewusstsein der eigenen ethnischen Gruppe und in der tiefsten Ebene befindet sich das gesammelte Unbewusstsein der gesamten Menschheit seit seiner Entstehung. Da sich hierin Inhalte befinden, die uns selbst nie bewusst waren, können wir sie demnach auch nicht verdrängt haben. Bestimmte Muster im Denken und in den menschlichen Verhaltensweisen gehen somit auf einen Kern des kollektiven Unbewusstseins zurück.
Welche Funktion schrieb Jung dem kollektiven Unbewussten zu?
Nach Jung haben sowohl das individuelle als auch das kollektive Unbewusstsein eine regulatorische Funktion.
Im Unbewussten vermutete Jung zudem noch psychische Kräfte, welche eine homöostatische Funktion (inneres Gleichgewicht) innehatte. Doch diese würden nicht nur nach einem Ausgleich streben, sondern auch auf Selbstverwirklichung, Ganzwerdung und die Implementierung von unbewussten Inhalten abzielen.
Des Weiteren sah Jung im kollektiven Unbewusstsein eine autonome Entwicklungstendenz. Er ging davon aus, dass das kollektive Unbewusstsein die Fähigkeit besitzt, bestimmte Prozesse anzustoßen. Diese Prozesse seien für die Entwicklung der Persönlichkeit von Nöten, da sie die psychische Reifung antreiben. Dabei handele es sich meistens um unterschwellige Prozesse. Das sei besonders dann der Fall, wenn es sich um besonders langanhaltende Reifungsprozesse handele.
Das kollektive Unbewusste als Richtungs- und Ratgeber
Jung ging davon aus, dass die komplette Entwicklung der menschlichen Psyche vom kollektiven Unbewusstsein gesteuert wird.
Von der Geburt bis zum Tod hat diese Ebene des Unbewussten also einen Einfluss auf unser Denken und Handeln. Selbst in akuten Krisen kann uns das kollektive Unbewusstsein nützen. Dementsprechend ging Jung davon aus, dass diese psychische Ebene in kritischen Lebenslagen eingreift und kreative Antworten für den Umgang mit dem aktuellen Problem liefern kann.
Zusammenfassung
- Jung baute seine Theorie über das kollektive Unbewusste auf Grundlage seiner Träume auf.
- Sein „Traumhaus“ bestand aus verschiedenen Etagen, welche die verschiedenen Stufen des kollektiven Unbewussten widerspiegelten.
- Im obersten Stock befindet sich die Gegenwart und im Keller die Anfänge der menschlichen Kulturgeschichte.
- Die Bilder des individuellen und auch des kollektiven Unbewusstseins kommen besonders in Träumen zum Vorschein. Der Grund dafür ist die zunehmende Durchlässigkeit des Ich-Bewusstseins im Schlaf.
- Realität und Unbewusstsein können unter diesen Umständen ineinanderfließen.
- Träume für die Bildung von Theorien zu nutzen, ist nach heutigem Standard nicht wissenschaftlich.
- Im individuellen Unbewusstsein spielen Persona, Schatten und das Ich-Bewusstsein eine Rolle. Im kollektiven Unbewusstsein hingegen sind es vor allem Archetypen, welche in verschiedenen Lebensphasen in Erscheinung treten.
- Jung nahm an, dass sich unser Selbst nur auf Grundlage eines kollektiven Unbewussten ausbilden könnte. Dieses sei für die Psyche so etwas wie der biologische Bauplan für die körperliche Entwicklung.
- Die Aufgabe des kollektiven Unbewussten ist die Regulation. Deshalb vermutete Jung Im Unbewussten psychische Prozesse, welche die geistige Reifung in Gang setzen.
- Doch auch in schwierigen Lebenssituation habe das kollektive Unbewusstsein eine hilfreiche Funktion inne. So berge es nach Jungs Annahmen kreative Lösungsansätze für Lebenskrisen. Demnach lenkt das kollektive Unbewusstsein die psychische Entwicklung des Menschen und kommt gleichzeitig einer Ratgeber-Funktion nach.