Weshalb ist Alltagspsychologie fehleranfällig
Man hört es oft: „Mensch, das hätte ich dir auch sagen können, dazu braucht man doch keinen Psychologen.“ Wer zum Beispiel eine Psychotherapie macht und hart darin arbeitet, kennt sicherlich solche Außenkommentare.
Die Alltagspsychologie versucht, alltägliche Handlungs- und Interaktionsmuster von Menschen durch einfache psychologische Rückschlüsse erklärbar zu machen. Auf den ersten Blick gibt das dem Einzelnen eine gute Orientierung in der Wirklichkeit und mehr Sicherheit. Was man zu verstehen meint, macht zum Beispiel weniger Angst. Auch erscheint der Umgang mit anderen Menschen leichter, wenn man sich erst einmal „ein Bild“ vom Gegenüber gemacht hat.
Alltag erlebt jeder Mensch – und somit wäre jeder Mensch auch ein Psychologe. Doch ist das wirklich so?
Inhalt
Praktische Klugheit und Lebenswirklichkeit
Schon der griechische Philosoph Aristoteles (384-322 vor Christus) kannte den Wert der „praktischen Klugheit“ und hat dazu ein Konzept entwickelt, das sich an vielen Stellen seines Werkes wiederfindet. „Practical wisdom“ heißt es heute und meint die praktische Erfahrung und Intelligenz, die – in unterschiedlicher Ausprägung – jedem Menschen aufgrund von alltäglichen Erfahrungen innewohnt. Man kann sie mit vielen Begriffen belegen: Abwertend und diffamierend hieß es früher zum Beispiel „bäuerliche Schläue“.
Oder aber es wird darunter das Bauchgefühl, diese wichtige Intuition, verstanden, die zu Entscheidungen und daraus folgenden Handlungen führt. Oder aber es sind jene Lebensweisheiten gemeint, die Menschen im Verlaufe ihres Daseins entwickeln und die sich u.a. in Form von Werthaltungen in der Persönlichkeit niederschlagen können.
In der Soziologie war es Alfred Schütz, der seine Theorie des Erlebens der Alltagswelt entwickelte und letztlich mit dazu beitrug, dass sich eine qualitative Sozialforschung herausbildete. Ihm zugrunde lag die Phänomenologie Edmund Husserls, der die Lebenswirklichkeit vieler philosophisch zu erfassen versuchte. Der Alltag, die Lebenswirklichkeit jedes Menschen, die heute eine so populäre Wertschätzung finden, sind also keine neuen Ideen. Doch sie bergen viele Gefahren, wenn man sie allzu leichtfertig benutzt.
Gefahr der Subjektivität
Jeder Mensch hat seine Perspektive, wie er die Welt erlebt – und das ist erst einmal eine große Bereicherung. Gefährlich wird es dann, wenn einzelne Perspektiven ohne Prüfung zum allgemeinen Maßstab, zur Wahrheit gemacht werden. Daraus resultieren meist falsche Glaubenssätze, Halbwahrheiten und Vorurteile. Was Allgemeingültigkeit tragen soll, beruht dann auf einzelnen, willkürlich herangezogenen Erfahrungen. Da kann vielleicht sogar ein Fünkchen Wahrheit darin stecken und dem Einzelnen auch in dieser spezifischen Situation dienlich sein.
Aber leider fehlt oft die Einsicht, dass es mehr Aussagekraft nicht hat und auch nicht für andere Menschen zutreffen muss. Im schlimmsten Fall entwickeln sich Ideologien, die ohne jegliche Überprüfung auf den Glaubenssätzen Einzelner beruhen und durch Macht dann das Leben aller bestimmen. Ideologie und Wissenschaft sind Feinde.
Wozu Psychologie als Wissenschaft
Wissenschaftliche Erkenntnis sucht der „Wahrheit“ möglichst nahe zu kommen, um sie zu objektivieren und allgemeingültig zu erklären. Anhand von systematischen Untersuchungen werden dann Hypothesen formuliert, die dann wiederum an der Wirklichkeit überprüft werden. Der große Soziologe Max Weber hat die Regeln der Wissenschaftlichkeit besonders gut formuliert. Dazu gehört seiner Meinung nach die absolute Trennung von persönlichem, subjektivem Werturteil und objektiver, wissenschaftlicher Erkenntnis. Anders ausgedrückt: Die objektive Erkenntnis ist von der subjektiven Interpretation zu trennen.
Naturwissenschaft versucht, die Naturgesetze zu ergründen. Psychologie sucht nach objektiven Gesetzmäßigkeiten und Deutungsmustern menschlichen Erlebens, Erkennens, Denkens, Fühlens, Handelns und nach deren inneren und äußeren Bedingungen. Ein Psychologe schaut mit bestimmten Methoden in die Innenwelt des Menschen, sogar in die Black Box, und erklärt damit das sichtbare Verhalten und Handeln. Er untersucht Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung des Menschen über das gesamte Leben, aber er schaut auch auf die Abweichungen und deren Ursachen. Es ist unmöglich, hier alle Aufgaben der Psychologie umfassend zu erläutern. Wichtig aber ist, dass für die Lösung aller Aufgaben bestimmte Methoden notwendig sind.
Psychologie als empirische Wissenschaft
Psychologie ist eine empirische Wissenschaft, ebenso wie zum Beispiel die Medizin. Die allererste Voraussetzung für Wissenschaft ist die Systematik. Zwar ist es oft eine einzelne oder es sind mehrere vereinzelte Beobachtungen, die zum wissenschaftlichen Erforschen anregen, aber der Prozess des Forschens ist immer systematisch. Und darin liegt der erste große Unterschied zur Alltagspsychologie.
Die wissenschaftliche Psychologie vermisst sozusagen die Seele des Menschen, mittels Beobachtung, Befragung oder in Experimenten. Ergänzt wird sie durch die Hirnforschung und die Neurophysiologie mit deren bildgebenden Verfahren und Versuchsreihen. Alle Methoden müssen offengelegt sein und somit auch wiederholbar, auch für fremde Wissenschaftler. Sie müssen nachvollziehbar und widerspruchsfrei sein. Wissenschaftliche Psychologie ist niemals willkürlich, sondern zielgeleitet, was mit Hilfe von Forschungsfragen und Hypothesen gewährleistet wird. Überprüfte Hypothesen fließen wiederum in Theorien ein, die niemals endgültig sind, sondern sich immer weiter entwickeln.
Und wozu das alles? Wissenschaft hat erklärende und prognostische Funktionen. Sie macht Kontinuitäten und Brüche deutlich und kann so der Praxis Vorschläge zur Verbesserung, Optimierung oder Veränderung anbieten. Wissenschaft schafft Wissen, überprüft es und hat auch kritische Funktionen. Sie erklärt in Mosaiksteinchen die Welt, um irgendwann das Große und Ganze besser zu verstehen.
Dabei ist es aber auch wichtig, dass sie sich nicht im Elfenbeinturm verschanzt und sich von der Alltagswelt und Lebenswirklichkeit der Menschen, um die es ja schließlich geht, entfernt. Deshalb hat Alltagspsychologie – in engen Grenzen – auch eine Funktion als Vermittlerin zwischen Mensch und Forschung.