Sigmund Freud: Fallakte Lucy R.
Schlagwörter: Hysterie, Sigmund Freud

Lucy R., ist eine Krankenakte von Sigmund Freuds, welche 1895 in seinem Werk „Studien zur Hysterie“ veröffentlicht wurde. Hinter Anna O. (Seite 15 – 36) und Emmy v. N (S. 37 – 89) ist Lucy R. (S. 90 – 106) der dritte Krankenfall zur Hysterie, welcher von Freud beschrieben wurde.
Wer war Lucy R?
Hinter dem Pseudonym „Lucy R.“ verbirgt sich eine englische Gouvernante – welche im Haus eines Wiener Fabrikdirektors arbeitete. Die 30-jährige litt an chronischem Schnupfen (lt. Freud: eitriger Rhinitiden) und bildete sich ein, überall verbrannte Mehlspeisen zu riechen.
Der ausgebildete Humanmediziner Freud untersuchte die Frau, konnte allerdings organische Ursachen ausschließen. So beschrieb er auf Seite 90, wie er ihre Schmerzempfindlichkeit testete, indem er die Nasenflügel innen und außen betastete. Dann überprüfte er Lucys Geruchsempfinden mit Ammoniak und Essigsäure und stellte fest, dass das Reizempfinden aufgehoben war.
Auf Seite 91 beschreibt Freud weiter, wie er seine Analyse bei Lucy R. aufgebaut hat. Die Geruchshalluzination (verbrannte Mehlspeisen) wurde demnach zum Ausgangspunkt seiner Analyse. Er versuchte nun das traumatische Ereignis in Lucys Vergangenheit zu finden, welche dem Geruch gleichkam. Es stellte sich heraus, dass Lucy einmal einen Kuchen anbrennen ließ – als ihr bewusst wurde – dass sie nicht länger auf die Kinder des Direktors aufpassen wollte.
Die Hintergründe zu Lucy R’s Erkrankung
Im Haus des Direktors war es Lucys Aufgabe, die zwei Kinder zu behüten. Die Ehefrau des Hausherrn und Mutter der Kinder war vor einigen Jahren an einer Krankheit gestorben. Auf ihrem Totenbett versprach Lucy der sterbenden Frau, dass sie sich um ihre Kinder kümmern würde.
Im Haushalt arbeiteten neben dem Kindermädchen noch weitere Dienstleute. Diese glaubten, dass Lucy eine Intrigantin ist, welche sich eine Stellung erschleichen will. Deshalb vertrauten sich die übrigen Bediensteten dem Großvater der Kinder an und verunglimpften Lucy.
Lucy trat daraufhin an den Hausherren und Vater der Kinder heran und forderte Rückendeckung ein, welche ihr nicht zugesprochen wurde. Das Kindermädchen war daraufhin sehr unglücklich, sah sich missverstanden und arbeite nur noch unter Groll im Haus des Direktors.
Als Lucy einen Brief aus Glasgow von ihrer Mutter empfing, wollte sie zu ihr reisen. Deshalb verspürte die Gouvernante den dringenden Wunsch, ihre Stelle im Haus aufzugeben, fühlte sich aber gegenüber den Kindern verpflichtet.
Durch mehrere Therapiegespräche konnte Freud dann die Ursache ihrer Halluzinationen finden. Lucy wurde ihr kläglicher Umstand (Schuld vs. Ausbrechen) erst richtig bewusst, als sie gerade dabei war, einen Kuchen für die Familie zu backen. Dabei muss ihr der Kuchen angebrannt sein, was zu einem unangenehmen Geruch führte.
Der Geruch der verbrannten Mehlspeise wurde somit zum unbewussten Trigger ihrer Schuldgefühle. Zu diesem Zeitpunkt litt Lucy an einem Schnupfen, aber die Erregung (Schuldgefühle) überkamen sie und der Geruch der verbrannten Speise durchschlug die organisch begründete Anosmie.
Somit war die Geruchshalluzination und das chronische Schnupfenleiden geklärt. Freud witterte allerdings noch mehr dahinter. Und so beschrieb er auf Seite 99, dass er glaubte – dass diese Schuldgefühle nicht allein die Ursache für ihren chronischen Schnupfen und ihren Halluzinationen sein konnten. Er teilte daraufhin Lucy seine Deutung mit.
Zitat von Freud:
„Ich glaube nicht, dass diess alle Gründe für Ihre Empfindung gegen die beiden Kinder sind; ich vermuthe vielmehr, dass Sie in Ihren Herrn, den Director, verliebt sind, vielleicht, ohne es selbst zu wissen, dass Sie die Hoffnung in sich nähren, thatsächlich die Stelle der Mutter einzunehmen, und dazu kommt noch, dass Sie so empfindlich gegen die Dienstleute geworden sind, mit denen Sie Jahre lang friedlich zusammengelebt haben. Sie fürchten, dass diese etwas von Ihrer Hoffnung merken und Sie darüber verspotten werden.“
Nachdem Lucy damit konfrontiert wurden war, gab sie zu – heimlich in den Hausherren verliebt zu sein. Und auch an den Ursprung dieser Liebe konnte sie sich erinnern. Denn der Direktor hat sie – vor Wochen – dafür gelobt, wie gut sie sich um seine verwaisten Kinder kümmert und sie besonders angeschaut. (vgl. 101) In dieser Szene hat Lucy sich in ihn verliebt.
Lucy R. Heilung durch Sigmund Freud
Nachdem Lucy ihre Schuldgefühle erkannte und sich ihre Liebe zum Direktor eingestand, verschwanden beide Symptome. Allerdings tauchte dann ein neues Symptom auf. Lucy bildete sich ein, überall Zigarettenrauch wahrzunehmen.
Freud begann dann, durch Redetherapie, auch diesem Symptom nachzugehen. Es stellte sich heraus, dass die Halluzination der Mehlspeise das Symptom der Rauch-Halluzination kurzzeitig überdeckt hat und nachdem dieses abgebaut war, tauchte das ursprüngliche Symptom wieder auf.
Die traumatische Szene dahinter lag längere Zeit (im Verglich zum verbrannten Kuchen) zurück. Lucy erinnerte sich, dass der Oberbuchhalter der Fabrik zu Besuch beim Direktor war. Alle haben geraucht und am Ende seines Besuches wollte er die Kinder zum Abschied küssen. Daraufhin sprang der Vater dazwischen und beendete die Abschiedszeremonie. Dabei muss er wohl sehr laut „nicht küssen“ gebrüllt haben, wodurch Lucy erschrak.
Das eigentliche Trauma lag allerdings noch länger zurück. Denn eine Freundin der Familie war Wochen vorher schon zu Gast. Zum Abschied küsste sie die Kinder und der Hausherr ließ dies zu. Allerdings nahm er Lucy später zur Seite und kritisierte sie dafür, dass sie das Küssen zuließ. Weiterhin versprach er, dass er neues Kindermädchen suchen würde – wenn dies noch einmal geschehen würde.
Als dann der Oberbuchhalter die Kinder wieder küssen wollte und der Direktor dazwischenfuhr, wurde das zurückliegende traumatische Erlebnis aktiviert und stellte eine Verbindung zur Umgebung her (Zigarettenrauch).
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