Was bedeutet Reisekönigtum, wie funktionierte das im Mittelalter
Als Reisekönigtum bezeichnet man eine bestimmte Form der Herrschaftsausübung im europäischen Mittelalter, bei der ein König oder Kaiser keinen wirklichen Stammsitz (Hauptstadt) besaß, sondern im Landesinneren mehrere Königs- oder Kaiserpfalzen unterhielt. Das Reisekönigtum begann im frühen Mittelalter unter der Herrschaft der Karolinger im Fränkischen Reich. Es überdauerte das Hochmittelalter und verlor im Spätmittelalter langsam an Bedeutung.
Inhalt
- 1 Die Vorgeschichte zum Reisekönigtum: Die Merowinger (5. – 8. Jahrhundert)
- 2 Wie begann bzw. entstand das Reisekönigtum: Die Karolinger unter Pippin dem Jüngeren (8. Jahrhundert)
- 3 Höhepunkt des karolingischen Reisekönigtums – Karl der Große (8. – 9. Jahrhundert)
- 4 Die personenbezogene Macht als Grundlage des Reisekönigtums
- 5 Das Reisekönigtum im 10. Jahrhundert – die Ottonen
- 6 Das Reisekönigtum im Hoch- und Spätmittelalter
Die Vorgeschichte zum Reisekönigtum: Die Merowinger (5. – 8. Jahrhundert)
Zu Beginn des frühen Mittelalters waren alle alten Strukturen zerbrochen. Ausgelöst von der Völkerwanderung und nach mehreren Plünderungen Roms ging im Jahr 476 das weströmische Kaisertum unter. Unterschiedliche Volksgruppen durchzogen und besiedelten das Land. Dazu gehörten auch die Franken, die seit dem 3. Jahrhundert in den weströmischen Grenzgebieten lebten und meistens in Kriegsdienst für das Römische Imperium standen.
Die Franken setzten sich aus diversen Stämmen zusammen. Um das Jahr 500 schlossen sie sich unter König Chlodwig I. aus dem Geschlecht der Merowinger zum Fränkischen Reich zusammen. Es umfasste ein Gebiet vom südlichen Frankreich bis zum heutigen Deutschland. Die Merowingerkönige waren ursprünglich mit Kriegsfürsten vergleichbar.
Ihre Macht gewannen sie durch militärische Stärke. Obwohl sie eigene Güter besaßen, zogen sie wegen kriegerischer Auseinandersetzungen häufig umher. Viele praktische Verwaltungsaufgaben übernahmen bis zum 8. Jahrhundert einflussreiche Adelige im Hofamt als Hausmeier. Dadurch verloren die Merowingerkönige im Laufe der Zeit an Macht. Im Jahr 751 stürzte der Hausmeier Pippin der Jüngere den letzten Merowingerkönig.
Wie begann bzw. entstand das Reisekönigtum: Die Karolinger unter Pippin dem Jüngeren (8. Jahrhundert)
Bis zur Machtübernahme der Karolinger gab es drei übliche Wege, um König zu werden. Der König wurde von den Stammesfürsten gewählt. Er konnte durch Eroberungen das Reich vergrößern. Zuletzt vererbte er die Gebiete an männliche Nachkommen. Die Königswürde bleibt an die Dynastie gebunden, bis es keine männlichen Nachkommen mehr gab. Dann erfolgte eine neue Königswahl.
An diesen Grundregeln änderte Pippin der Jüngere etwas Entscheidendes. Er ließ sich die Wahl zum Frankenkönig 751 vom Pabst in Rom legitimieren. Diese Verbindung zwischen Königswürde und Pabsttum verstärkte sich kurz darauf. Der Langobardenkönig Aistulf eroberte in Italien die Regierungsenklave des oströmischen Byzantinerreichs mit der Stadt Rom und weiteren Landstrichen. Der Pabst bat den Frankenkönig um Schutz. Dieser eroberte die Enklave. Aber er übergab sie nicht dem Byzantinischen Reich, sondern schenkte sie dem Pabst. Dank der Pippinischen Schenkung im Jahr 754 wurde das Fränkische Reich die Schutzmacht des neuen Kirchenstaates.
Der fränkische König wurde Verteidiger und Schutzherr der Christenheit. Er zog in Friedenszeiten mit dem Hofstaat im Reich umher, um Recht und Ordnung zu bewahren. Das ist der eigentliche Beginn des Reisekönigtums. Dafür brauchte es feste Unterkünfte für den Hofstaat, die überall im Reich errichtet wurden. Etwa ab dem Jahr 760 begann unter Pippin die Blütezeit der Pfalzen.
Höhepunkt des karolingischen Reisekönigtums – Karl der Große (8. – 9. Jahrhundert)
Ab dem Jahr 771 herrschte Pippins Sohn Karl der Große als alleiniger König im Fränkischen Reich. Während seiner Regierungszeit bekam das Reisekönigtum seinen repräsentativen und einflussreichen Charakter. Zunächst folgte Karl dem väterlichen Beispiel. Er ließ überall im Reich Pfalzen errichten und wanderte mit seinem Hof von einer Pfalz zur nächsten. Etwa ab 788 wünschte er sich dennoch einen Mittelpunkt für die Regierungsgeschäfte.
Anders als heute üblich gab es keine Hauptstadt. Um einen solchen Mittelpunkt zu erschaffen, wurde die Königspfalz in Aachen zu einer Art Hauptwohnsitz mit repräsentativen Bauten wie dem Oktogon als Pfalzkapelle ausgestattet. Die dazu gehörigen Thermalbäder erlaubten speziell im Winter einen angenehmen Aufenthalt.
Der Hof umfasste viele hunderte Personen. Zum einen umfasste er die Geistlichen, die als Kanzler, Notare oder Capellanus der Hofkapelle tätig waren. Dazu Pfalzgrafen für die weltlichen Regierungsgeschäfte. Ebenso zählten dazu alle Bediensteten der Königin als Vorstand des königlichen Haushalts. Dazu kamen diverse Hofämter wie Mundschenk, Kämmerer oder Quartiersmeister. Sie alle hatten weitere Bedienstete. Der Hof umfasste auch alle Personen, die für Bildung und Kultur zuständig waren. Viele Gelehrte aus unterschiedlichen Sprach- und Kulturkreisen hielten sich zeitweilig am Karlshof auf.
Jede Pfalz besaß einen Palas, um Hof zu halten und Recht zu sprechen. Zweimal im Jahr veranstaltete Karl der Große sogenannte Hoftage. Dann reisten die Adeligen und Vasallen zur Pfalz. Es wurden politische Fragen besprochen und Streit geschlichtet. Im Jahr 800 ließ sich Karl der Große zum Kaiser krönen. Damit wurde das Reisekönigtum später der vorherrschende Regierungsstil der Kaiser des Heiligen römischen Reichs deutscher Nationen.
Die personenbezogene Macht als Grundlage des Reisekönigtums
Die Macht eines Königs ging im Mittelalter von der Person aus und nicht vom Amt. Ein abwesender König büßte deshalb an Einfluss ein. Um sich immer neu der Treue von Vasallen zu versichern, waren die persönliche Nähe und Begegnung unerlässlich. Die Grundregeln der Herrschaft stecken im Lehnswesen. Der König war zugleich der Grundbesitzer aller Reichsgebiete.
Diese überließ er als Lehen an Adelige, die dafür im Austausch Treue und Kriegsdienste zu erbringen hatten. Die Lehen deckten den Lebensunterhalt der Adeligen und befähigte sie wirtschaftlich außerdem, Kriegstruppen auszustatten. Im Frühmittelalter waren die Lehen tatsächlich nur für die Lebenszeit des Vasallen vom König verliehen. Später konnten die Lehensmänner den Grundbesitz weitervererben. Indem der König durch das Reich wanderte, sorgte er für die regelmäßige Begegnung mit allen Adeligen, aber auch dem Volk. Das persönliche Erscheinen stärkte die Verbindung und darüber die Macht des Königs.
Wirtschaftliche Versorgung des Hofes und Reiserouten
Der gesamte Königshof umfasste hunderte Personen, die täglich mit Lebensmitteln versorgt werden mussten. An jede Pfalz waren landwirtschaftliche Güter angeschlossen, die das ganze Jahr über bestellt wurden. Dennoch wäre es zur damaligen Zeit nicht möglich gewesen, die Versorgung des ganzen Hofstaates rund um das Jahr an einem einzigen Ort sicher zu stellen. Der reisende Hof bewirkte nebenbei, dass die Versorgung des Hofstaates auf viele Pfalzen und ihre landwirtschaftlichen Güter verteilt werden konnten. Pfalzen wurden immer in landwirtschaftlich fruchtbaren Regionen errichtet. Die Wegrouten von Pfalz zu Pfalz führten außerdem an den wichtigsten Handelsrouten entlang.
Das Reisekönigtum im 10. Jahrhundert – die Ottonen
Im Jahr 962 bildete sich unter Otto I. als Kaiser das Heilige römische Reich deutscher Nationen heraus. Auch Otto regierte auf Basis des Reisekönigtums. Unter seiner Herrschaft verloren die Pfalzen allerdings zunehmend an Bedeutung. Unter der Herrschaft der Ottonen erhielt die Reichskirche großzügige Schenkungen mit hohen Rechten wie das Münzprägerecht. Umgekehrt ar sie deshalb auch verpflichtet, den König zu beherbergen. Damit entfielen für die Könige bzw. Kaiser die teuren Bewirtschaftungskosten eigener Pfalzen. Ab dem 10. Jahrhundert nutzen die Ottonen bevorzugt Reichsabteien, um durch das Reich zu reisen.
Das Reisekönigtum im Hoch- und Spätmittelalter
Den Ottonen folgten zunächst die Salier auf dem Königs- und Kaiserthron. In der Epoche der Salier gewann die Reichskirche ihre größte Macht. Es gab diverse Konflikte zwischen Pabsttum und Kaiser. Der berühmte Gang nach Canossa gehört zu den historischen Höhepunkten im Investiturstreit. Die Unterbringung von Hof und König im Reisekönigtum verlagerte sich dabei zunehmend auf die Bischofssitze.
Unter der folgenden Herrschaft der Staufer mit Kaiser Friedrich I. entwickelte sich eine besonders große Prachtentfaltung bei Hoftagen. Der spätere Kaiser Friedrich II. hielt sich allerdings kaum noch im Reich auf und ein umfangreiches Reisekönigtum kam hier größtenteils zum Erliegen. Er büßte entsprechend auch an Einfluss gegenüber vielen Fürsten ein. Er weilte meistens auf Sizilien. In der Zeit des Spätmittelalters bürgerte es sich nach und nach ein, dass die Regierung hauptsächlich vom jeweiligen Krongut des Königs oder Kaisers geführt wurde. Das Reisekönigtum verlor dadurch zunehmend an Bedeutung.