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Soziale Faktoren der Wahrnehmung: Definition, Einfluss & Beispiele


Soziale Faktoren, Normen, Wertvorstellung und gesellschaftliche Rahmenbedingungen beeinflussen die Wahrnehmung. Denn unsere Interaktion mit der sozialen Umwelt wird nicht nur von uns selbst bestimmt. Häufig sind soziale Gegebenheiten daran beteiligt, wie wir agieren und reagieren.

Neben Stereotypen und Attributionsstilen kann auch der einfache Umstand, dass wir uns in einer Gruppensituation befinden, unser Verhalten beeinflussen. Da der Mensch ein soziales Wesen ist, richtet er seine Urteile häufig an den sozialen Gegebenheiten aus. Diese sind unter anderem von Normen und Werten beeinflusst, allerdings spielt hier auch die Kultur eine Rolle.

Individuelle und soziale Faktoren der Wahrnehmung

Soziale Faktoren der Wahrnehmung sind:

  • gesellschaftliche und kulturelle Einflüsse
  • andere Menschen
  • Gruppen und Gruppenzugehörigkeiten
  • soziale Wertvorstellungen, Moral und Normen

Individuelle Einflüsse, welche die Wahrnehmung ändern, sind:

  • bisherige Erfahrungen und Erinnerungen
  • Persönlichkeitsmerkmale
  • Erwartungen

Beeinflussung der Wahrnehmung durch soziale Faktoren

Wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen, wird durch unsere Erfahrungen und unser Wissen beeinflusst.
Unsere Wahrnehmung stützt sich auf unsere Erfahrungen. Daher hat unser Vorwissen auch einen selektierenden Einfluss darauf, was wir wahrnehmen und was nicht.

Dieses Vorwissen setzt sich unter anderen auch aus unseren Sozialisationserfahrungen zusammen. Wir nehmen im Laufe unseres Lebens verschiedene soziale Normen und Werte auf und verinnerlichen diese bereits im Kindesalter. Normen geben uns Orientierung und bilden eine Art „Gebrauchsanweisung“ für das soziale Miteinander. Folglich nutzen wir andere Menschen, um unser Verhalten anzupassen. So wollen wir Sanktionen entgehen.

Sozialer Druck trübt unsere Wahrnehmung

Wir wollen in den meisten Fällen nicht von der Norm abweichen. Sich gegen die Ansichten der Gruppe zu stellen konnte in der frühen Geschichte der Menschheit zum Ausschluss aus eben dieser führen. Dieser Rauswurf war unter Umständen lebensgefährlich, da unsere Vorfahren auf ihre Gruppe angewiesen waren.

Dieses Verhalten ist immer noch in uns verwurzelt. Selbst wenn unsere Wahrnehmung fehlerfrei funktioniert, richten wir unser Urteil doch lieber an der Meinung der Mehrheit aus. Das zeigte sich beispielsweise in Studien von Solomon Asch, welcher sich unter anderem mit der Urteilsbildung befasste. In seinen Experimenten zeigte er seinen vermeintlichen Versuchsteilnehmern beispielsweise verschiedene Abbildungen von Linien.

Die Teilnehmer sollten daraufhin sagen, welche der Linien dieselbe Länge aufwiesen. In Wahrheit waren in der Gruppe alle Versuchsteilnehmer bis auf einen in das Experiment eingeweiht. Sie waren angewiesen worden, einheitlich ein falsches Urteil abzugeben. Zum Beispiel, dass Linie C genauso lang ist wie Linie A – obwohl diese offensichtlich viel kürzer war als A. Linie B wäre die richtige Antwort gewesen.

Der „echte“ Proband gab zwar zunächst die richtige Lösung an, änderte seine Aussagen allerdings nach anfänglicher Verwunderung über die einstimmige (der seinen nicht entsprechenden) Beurteilung der anderen Teilnehmer. Diese Konformität mit der Gruppe hinsichtlich einer falschen Urteilsbildung zeigte sich über etliche Experimente hinweg bei der überwiegenden Mehrzahl der Studienteilnehmer. Somit konnte Ash nachweisen, dass sich in Gruppe die allgemeine Wahrnehmung und Wahrheit ändert.

Wie sehr wir dem Einfluss der Gruppe unterliegen hängt von verschiedenen Faktoren ab. Dazu gehört beispielsweise die Gruppengröße, die Einstimmigkeit und der kulturelle Hintergrund. So zeigte sich in kollektivistischen Kulturen (Großfamilien) eine größere Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen als in individualistischen.

Soziale Wert- und Normvorstellungen und deren Einfluss auf die Wahrnehmung

Soziale Normen bilden ein ungeschriebenes soziales Ordnungssystem, schränken jedoch das individuelle Verhalten zu einem gewissen Grad ein.

Allerdings ist das hinsichtlich der Unterstützung eines relativ reibungslosen Ablaufes sozialer Interaktionen zu verkraften. So ist es beispielsweise eine soziale Norm, sich an der Supermarktkasse hinten in die Warteschlange einzureihen. Eingeschränkt wird man insofern, als dass man nicht als erster an der Reihe ist. Doch gleichzeitig erspart man sich den Ärger mit anderen Kunden, wenn man sich einfach vordrängeln würde.

Denn Normen haben auch eine wertende Komponente. Um bei dem Beispiel der Warteschlange zu bleiben: Zwar würde kaum jemand ein Lob aussprechen, nur weil du dich hinten anstellst. Allerdings würde normwidriges Verhalten sanktioniert werden. Hier eben in Form von wütenden Reaktionen seitens der anderen Kunden. Wir nehmen diese sozialen Normen in der Regel als gegeben hin und handeln danach.

Ein unreflektierter Umgang mit Normen kann allerdings auch negative Folgen haben. Demnach fließen gewisse Verhaltensnormen in unsere Wahrnehmung ein und verändern bestimmte Sichtweisen. Unsere Sinnesorgane, welche lediglich Reize weiterleiten und interpretieren, nehmen auch soziale Faktoren wahr und geben dem Gesamtbild einen richtungsweisenden Anstrich.

Soziale Normen und Statuten verhindern die eigentliche Wahrnehmung

Als Beispiel soll die von vielen verinnerlichte Norm dienen, dass man sich in fremde Familien nicht einzumischen hat.

Studien zeigten, dass Passanten eher in einen heftigen (vom Forscherteam inszenierten) Streit zwischen einem Mann und einer Frau eingriffen, wenn es sich bei diesen offenbar nicht um ein Ehepaar handelte. Gab die Frau zu erkennen, dass der Mann für sie ein Unbekannter ist, erhielt sie eher Hilfe. Ließ sie allerdings Kommentare fallen wie „Ich weiß nicht, warum ich dich überhaupt geheiratet habe!“, so mischte sich kaum jemand ein.

Auch der Fall James Bulger ist ein trauriges Beispiel dafür, dass „Familie“ eine Handlungsgrenze zu sein scheint. Der Zweijährige wurde von zwei damals zehnjährigen Jungen entführt, gequält und umgebracht. Passanten sahen zwar das verletzte und weinende Kind und sprachen die beiden anderen Jungen auf die Situation an. Doch als diese behaupteten, der Junge sei ihr Bruder, ließen die Zeugen sie weitergehen.

Wie wird die Wahrnehmung durch andere Personen und Personengruppen beeinflusst?

Wir vergleichen uns mit anderen Menschen.
Und zwar nicht nur hinsichtlich dessen, ob wir uns selbst in unseren Leistungen steigern wollen. Was – nebenbei gesagt – einerseits zwar anspornen, andererseits auch sehr unglücklich machen kann. Da wir damit einhergehend häufig ein Gefühl des Mangels empfinden und Selbstzweifel entwickeln können.

So nehmen wir weniger attraktive Menschen, als noch unattraktiver wahr – sobald sie neben sehr hübschen Menschen stehen. Gleichzeitig werten sich attraktive Menschen zusätzlich auf, indem sie mit Unattraktiven verkehren. Reiche Menschen fühlen sich nur in einer Gruppe Armer reich. Sobald der Reichere die Gruppe der Ärmeren verlässt und in eine noch reichere Gruppe wechselt, ist er mitunter der Ärmste und wird auch so wahrgenommen.

Bestimmte Merkmale, wie Reichtum, Schönheit, Intelligenz oder Talent kommen nur zur Geltung, solange es andere Gruppenmitglieder gibt, welche dies nicht bzw. weniger haben. Somit werden diese Merkmale nur in Relation zu anderen Menschen wahrgenommen.

Der Zuschauereffekt beeinflusst die Wahrnehmung

Vergleiche stellen wir auch im sozialen Verhalten an. Das hat zwar den Vorteil, dass wir selbst uns konform verhalten und nirgends anecken. Einen großen Nachteil birgt dieses Verhalten allerdings auch in Situationen, in denen Handlungen gefragt sind. Dazu zählen beispielsweise die bereits angesprochenen Notsituationen.

Als Einzelperson reagieren viele Menschen vollkommen anders als sie es in einer Gruppensituation tun würden. Nehmen wir eine Notsituation wahr, spulen wir unbewusst ein internes Programm ab, mit welchem wir die Situation besser einschätzen und unsere Handlungen abwägen können.

Dieses Entscheidungsmodell läuft in mehreren Schritten ab. Im ersten geht es darum, die Situation überhaupt erst zu bemerken. Wenn wir beispielsweise unter Zeitdruck stehen und in Eile sind, nehmen wir die Situation als solche unter Umständen gar nicht wahr.

Erkennen wir die Situation doch, entscheiden wir im zweiten Schritt, ob es sich um einen Notfall handelt oder nicht. Danach wägen wir ab, was zu tun ist. Steht es in unserer Macht, zu helfen? Besitzen wir die nötigen Fähigkeiten? Schließlich entscheiden wir uns im nächsten Schritt dafür, ob wir selbst helfend eingreifen oder lieber jemanden alarmieren. Nachdem all diese Punkte geklärt sind, folgt im fünften Schritt die Umsetzung.

Diese Abwägung der Situation läuft sehr schnell ab und findet sowohl in Einzel- als auch in Gruppensituationen statt. Doch die Wahrnehmung von solchen Situationen kann sich innerhalb von Gruppen verändern. Nicht selten greift der sogenannte Zuschauereffekt, welcher das Hilfeverhalten der Zeugen senkt. Die Faktoren Verantwortungsdiffusion, pluralistische Ignoranz und auch das Publikum an sich hemmt helfendes Eingreifen.

Je größer eine Gruppe ist, desto breiter verteilt sich die Verantwortung für eine Situation über die Gruppenmitglieder. Anders gesagt: Je mehr Menschen anwesend sind, desto unwahrscheinlicher wird das tatsächliche Hilfeverhalten des Einzelnen. Denn jeder gibt einen Teil seiner Verantwortung an die anderen Beobachter ab und fühlt sich selbst kaum noch in der Verpflichtung, etwas zu unternehmen. Schließlich sind ja genügend andere Personen anwesend, die eingreifen könnten.

Bei der pluralistischen Ignoranz kommt es zu einer Verschiebung des eigenen Wahrnehmungsfokus von der Notsituation auf die anderen Beobachter. Wie handelt die Gruppe? Greift niemand ein, scheint es sich nicht um eine echte Notsituation zu handeln. Wir passen unsere Wahrnehmung dem scheinbaren Urteil der Mehrheit an.

Was für die Beurteilung der Linien aus Aschs Experimenten gilt, greift also offenbar auch in sozialen Situationen. Doch nicht nur die pluralistische Ignoranz und Verantwortungsdiskussion stellen hemmende Faktoren dar, sondern auch die Gruppe an sich. Denn im Fall unseres Eingreifens, hätten wir ein Publikum. Das kann verunsichernd wirken. Schließlich könnten wir etwas falsch machen, nicht „richtig“ helfen und dadurch von der Gruppe negativ beurteilt werden. Die Angst davor kann lähmen und das Hilfeverhalten verhindern.

Allerdings bedarf es hinsichtlich der Einflüsse auf das Hilfeverhalten noch weitere Forschung.
Viele der Experimente aus den 1960er und 1970er Jahren leisteten zwar Pionierarbeit in diesem Forschungsfeld, sind allerdings auf relativ unrealistische Szenarien gestützt. Zudem ist der Zuschauereffekt mittlerweile auch vielen Menschen bekannt, so dass ihr Verhalten in Notsituationen heutzutage anders ausfallen könnte. Hinzu kommt, dass diese Effekte in extremen Notsituationen häufig auch nicht greifen.

Welchen Einfluss haben gesellschaftlich und kulturelle Gegebenheiten auf die Wahrnehmung?

Individualistische und kollektivistisch geprägte Gesellschaften nehmen ihre Mitmenschen anders wahr. Das bezieht sich beispielsweise auch auf die Ursachenzuschreibung hinsichtlich deren Verhaltens. Denn individualistische Gesellschaften zeigen die Tendenz auf, die eigenen Ziele und Leistungen zu betonen. Somit wird die Ursache für Erfolg beim Individuum gesucht, was sich auf die Wahrnehmung Desjenigen auswirkt.

Bei kollektivistischen Kulturen ist es eher der Fall, dass individuelle Ziele den Zielen der Gruppe untergeordnet werden. Bei der Ursachenzuschreibung verhält es sich so, dass Menschen aus individualistischen Gesellschaften die Ursache für das Verhalten einer Person auch bei dieser suchen. Unterläuft einer anderen Person ein Fehler, wird die Ursache dafür häufig in der Persönlichkeit dieses Menschen vermutet.

So könnte man sich einen beobachteten Sturz damit erklären, dass diese Person einfach generell sehr ungeschickt und unachtsam ist. Ein kollektivistisch-gesellschaftlicher Hintergrund hingegen führt meist zu einer Ursachensuche in den äußeren Umständen. Die Ursache für den Sturz könnte ein glatter oder unebener Untergrund gewesen sein.

Noch ein Beispiel…
Ist ein Mensch erfolglos im Job, nimmt man diesen in individualistischen Gesellschaften als faul, nicht zielstrebig oder vielleicht sogar als dumm wahr. Man schreibt ihm Attribute zu, welche kulturell verankert sind und als allgemein gültig gelten. In einer kollektivistischen Gesellschaft würde man glauben, dass dieser Mensch in einem schlechten Umfeld arbeitet.

Zusammenfassung

  • Wir sind mit Werten und Normen aufgewachsen, welche unsere Wahrnehmung beeinflussen. Dabei richten wir unsere Wahrnehmung allerdings auch an unseren Mitmenschen aus. Denn da wir dazu neigen, uns gruppenkonform zu verhalten, lassen wir uns auch zu offensichtlich falschen Urteilen hinreißen.
  • Gleichzeitig zweifeln wir an unserer eigenen Wahrnehmung und unseren Urteilen, wenn sie denen der Mehrheit widersprechen.
  • Gruppensituationen beeinflussen nicht nur unsere Wahrnehmung, sondern auch unser Verhalten. Wenn wir sehen, dass andere Augenzeugen sich von einer Notsituation unbeeindruckt zeigen, beurteilen wir diese Situation häufig ebenfalls als harmlos und greifen mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit helfend ein.
  • Doch nicht nur die Meinung der Gruppe kann unser Hilfeverhalten senken, sondern auch bestimmte Normen. Die soziale Norm, sich nicht in Familienangelegenheiten einzumischen, ist ein Beispiel dafür.

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