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Psychische, Soziale und Mentale Entwicklung in der Kindheit


Die kindliche Entwicklung folgt einem genetisch festgelegten Programm. In diesem Zusammenhang wird auch von der Reifung gesprochen. Die damit verbundenen biologischen Wachstumsprozesse bilden das Fundament für die Veränderungen im kindlichen Verhalten. Diese Änderungsabfolgen sind dabei von den äußeren Einflüssen und Erfahrungen relativ unabhängig.

Im folgenden Artikel beleuchten wir die körperliche und geistige Entwicklung von Kleinkindern und Kindern. Du erfährst unter anderem etwas über entwicklungspsychologische Theorien, Bindungs- und Erziehungsstile und das Selbstkonzept von Kindern.

Wie entwickelt sich das Gehirn in der Kindheit

Das Gehirn ist bereits bei der Geburt mit allem Nötigen ausgestattet. Kommt ein Mensch auf die Welt, sind bereits fast alle Gehirnzellen vorhanden. Die einzelnen Bauteile sind also schon da, doch sie müssen im Laufe des jungen Lebens noch vernetzt werden. Sobald wir etwas lernen, kommen neue Verbindungen zwischen den einzelnen Gehirnzellen zustande – und das sind nicht gerade wenig. Zum Zeitpunkt der Geburt verfügt ein Baby über rund 23 Milliarden Neuronen.

Zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr kommt es zu einer rasanten Zunahme von Neuronenverbindungen. Das trifft vor allem auf den Frontallappen zu. Dieser Teil des Gehirns sitzt direkt hinter der Stirn und ist unter anderem für Aufmerksamkeit und Verhaltenskontrolle zuständig. Die geistigen Fähigkeiten von Kindern entwickeln sich durch die wachsende Verbindung der Assoziationsfelder des Gehirns. Diese Felder bringen beispielsweise Sprache, Denken und Gedächtnis in einen Zusammenhang.

Einmal geknüpfte Verbindungen bleiben jedoch nicht unbedingt bestehen. Das Gehirn funktioniert hier nach der Devise „use it or lose it“: Werden bestimmte Verbindungen nicht genutzt, gehen sie zurück oder verschwinden völlig. Eine häufige Nutzung von Neuronenverbindungen hingegen stärkt diese. Du kannst dir das wie Waldwege vorstellen. Werden diese häufig genutzt, werden aus kleinen Trampelpfaden irgendwann befestigte Straßen und gegebenenfalls Autobahnen. Ungenutzte Wege wuchern irgendwann wieder zu.

Die motorische Entwicklung

Neugeborene sind noch sehr in ihren Bewegungen eingeschränkt. Sie können noch nicht allein sitzen, laufen oder selbstständig essen. Die motorischen Fähigkeiten entwickeln sich erst im Zusammenhang mit der Entwicklung des Gehirns. Wann ein Baby welche Bewegung ausführen kann, hängt von der Reifung ab. Die Abfolge der Bewegungen erlernen Kinder nicht durch die Beobachtung anderer, sondern sie wird vom Fortschreiten der Reifungsprozesse von Muskeln und Gehirn beziehungsweise des Nervensystems gesteuert. In der Regel können alle Babys vor dem Krabbeln erst selbstständig sitzen und Laufen erst nach einer Krabbelphase. Die jeweiligen Zeitpunkte sind allerdings individuell.

Die Genetik spielt hier auch eine Rolle. Eineiige Zwillinge beginnen meist zeitgleich mit dem Laufen. Zwischen anderen Geschwistern beziehungsweise auch nicht miteinander verwandten Kindern gibt es zeitliche Unterschiede. Durch äußere Einflüsse lässt sich deshalb daran auch wenig ändern. Wenn das Nervensystem eines Kleinkindes noch nicht an der Entwicklungspunkt angelangt ist, wo es beispielsweise seine Blasentätigkeit unter Kontrolle hat, bringen noch so häufige Übungsversuche auf dem Töpfchen keinen Erfolg.

Reifungsprozesse und die Entwicklung des kindliches Gedächtnis

Wie alle leiden an einer „infantilen Amnesie“. Wir können uns nicht an Dinge erinnern, die vor unserem dritten Geburtstag stattfanden. Nicht falsch verstehen: Dieser Geburtstag ist nicht der Stichtag für ein von da an funktionierendes Gedächtnis. Doch das Durchschnittalter für die ersten Erinnerungen liegt bei etwa dreieinhalb Jahren. Mit zunehmender Reifung der unterschiedlichen Gehirnregionen bildet sich auch ein immer stärker werdendes Erinnerungsvermögen aus. Bestimmte Bereiche reifen noch bis ins Jugendalter weiter. Dazu zählen etwa der bereits erwähnte Frontallappen und der Hippocampus. Letzterer vermittelt zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis und spielt eine wichtige Rolle beim Lernen und Erinnern.

Babys sind sich ihres Lernfortschritts nicht bewusst

Dass das Gehirn allerdings schon früher zu (unbewussten) Erinnerungen fähig ist, zeigte ein zufälliger Versuch aus den 1960er Jahren. Die Psychologin Carolyn Rovee-Collier verband den Fuß ihres zwei Monate alten Sohnes mit dessen Mobile, damit er dieses durch seine Bewegungen selbst in Gang setzen konnte. Als sie bemerkte, dass er scheinbar absichtlich den Fuß bewegte, wiederholte sie diesen Vorgang noch mit anderen Säuglingen.

Auch diese traten häufiger mit den Füßen, nachdem sie einen Zusammenhang zwischen ihrer eigenen Bewegung und der des Mobiles erkannten. Auch am Folgetag konnten sie sich noch daran erinnern und trampelten mit den Füßen. Hier fand also offensichtlich ein Lernprozess statt. Ein weiterer Hinweis darauf war auch der Umstand, dass die Babys nicht mit den Füßen traten, wenn es sich um ein neues Mobile handelte. Sie führten die Bewegungen nur bei dem ursprünglichen Spielzeug aus.

Anders ausgedrückt: Das Gehirn erinnert sich auch an Dinge, die dem Bewusstsein nicht zugänglich sind.

Die kognitive Entwicklung von Kindern

Über die Entwicklung des Verstandes im Kindesalter gibt es verschiedene Theorien. Eine gängige Theorie stammt vom Entwicklungspsychologen Jean Piaget. Bei seiner Arbeit entdeckte er im Zusammenhang mit der Entwicklung von Intelligenztests Unterschiede im kindlichen Denken, welche mit dem Alter der Kinder in Verbindung standen. Kinder im Alter von drei Jahren verstehen zum Beispiel Zusammenhänge noch nicht, die sich einem Achtjährigen direkt erschließen.

Piaget teilte die kognitive Entwicklung von Kindern in verschiedene, aufeinander aufbauende Phasen ein. Mit Kognition sind geistige Vorgänge gemeint, die sich um das Erinnern, Denken oder Sprechen drehen.

Schemata, Assimilation und Akkomodation

Von Piaget stammt auch der Begriff des Schemas. Mit einem Schema meinte er eine kognitive Struktur oder ein Gerüst, in welches ein Kind Informationen einordnet. Mit zunehmender Anzahl von Erfahrungen bilden sich auch neue Schemata aus. Hierfür hatte Piaget ebenfalls Bezeichnungen: Assimilation und Akkomodation. Mit der Assimilation ist gemeint, dass Kinder neue Erfahrungen mit Hilfe der bereits vorhandenen Schemata interpretieren. Bei der Akkomodation hingegen werden existierende Schemata modifiziert, damit die neuen Informationen zu ihnen passen.

Piagets Theorie zufolge erfolgt die kognitive Entwicklung im Zusammenspiel mit der Umwelt. Die Entwicklung selbst teilte er in vier Phasen oder Stadien ein: sensumotorisch, präoperatorisch, konkret-operatorisch und formal-operatorisch.

Die sensumotorische Phase

Sie erstreckt sich etwa von der Geburt bis zum zweiten Lebensjahr. Kinder erfahren in dieser Zeit ihre Umwelt vornehmlich durch ihre Sinneswahrnehmung und Handlungen: Sehen, Hören, Greifen oder Objekte in den Mund nehmen. Ein Phänomen, welches sich erst nach etwa acht Monaten zeigt, ist die Objektpermanenz.

Damit ist das Bewusstsein darüber gemeint, dass Objekte auch außerhalb des eigenen Blickfeldes weiterhin existieren. Jüngere Babys suchen beispielsweise nicht mehr nach einem Spielzeug, wenn eine Decke darübergelegt wird. Sprichwörtlich gilt bei ihnen: Aus den Augen, aus dem Sinn. Die Forschung hat mittlerweile allerdings den Bereich von 8 Monaten aufgeweicht. Auch hier sind gewisse Schwankungen im Alter vorhanden. Das Fremdeln ist ein weiteres Verhalten, welches Kinder bis etwa zwei Jahren zeigen.

Die präoperatorische Phase

Die präoperatorische Phase schrieb Piaget der Altersspanne von zwei bis sechs oder sieben Jahren zu. In dieser Zeit lernen Kinder, Dinge in Form von Bildern oder Worten selbst darzustellen. Sie nutzen noch keine wirkliche Logik, sondern denken eher intuitiv. Neben dem So-tun-als-ob-Spiel ist auch der Egozentrismus in dieser Phase vertreten.

Mit Egozentrismus meinte Piaget, das Kinder dieses Alters noch nicht die Perspektive anderer einnehmen können. Ein Beispiel dafür ist, dass ein Kind sich die Augenzuhält und dann glaubt: „Wenn ich die anderen nicht sehe, sehen sie mich auch nicht“. Bei Vorschulkindern kommt es neben der Egozentrik mit etwa 4 bis 5 Jahren zu einer Entwicklung der Theory of Mind. Sie werden sich darüber bewusst, was in etwa in anderen Menschen vorgeht.

Ein Beispiel: Einem Dreijährigen werden zwei Puppen vorgestellt. Puppe A legt ein Spielzeug in einen roten Schrank und verlässt dann die Szene. Puppe B nimmt das Spielzeug aus dem roten Schrank heraus und platziert ihn in einem blauen Schrank. Das Kind wird gefragt, wo Puppe A bei der Rückkehr den Ball suchen wird. Während der Dreijährige den blauen Schrank vermutet, benennen ältere Kinder den roten. Sie wissen bereits, dass Puppe A nicht wissen kann, dass Puppe B das Spielzeug woanders versteckt hat. Mit drei Jahren glauben Kinder noch, dass alle anderen auch das wissen, was sie selbst wissen.

In dieser Phase wird die Mengenerhaltung noch nicht verstanden. Mengenerhaltung meint, dass beispielsweise ein Liter Wasser auch dann noch ein Liter bleibt, wenn er von einem schmalen, hohen Gefäß in eine breite, flache Schale gefüllt wird. Die Form ändert sich, doch die Menge bleibt dieselbe. Würde man ein Kind in diesem Stadium fragen, in welchem Gefäß sich mehr Flüssigkeit befindet, würde es auf das hohe Gefäß deuten.

Die konkret-operatorischen Phase

Zwischen dem etwa siebten und elften Lebensjahr befinden Kinder sich in der konkret-operatorischen Phase. Sie können über konkrete Ereignisse auf eine logische Weise nachdenken und konkrete Analogien erfassen. Auch mathematische Handlungen sind durchführbar. Das Konzept der Mengenerhaltung wird mittlerweile verstanden. Sie begreifen, dass eine Form sich ändern kann, ohne dass die Menge variiert. Auch mathematische Transformationen werden vorgenommen. Beispielsweise einfaches Plus- und Minusrechnen.

Die formal-operatorischen Phase

Die formal-operatorische Phase verläuft laut Piaget zwischen dem zwölften Lebensjahr und dem Eintritt ins Erwachsenenalter. Abstraktes Denken und Logik entwickeln sich und moralisches Denken nimmt zu. Kinder ab zwölf Jahren beginnen, in „Wenn, dann“-Mustern zu denken. Sie können Schlussfolgerungen ziehen, ohne bestimmte Abläufe selbst erlebt haben zu müssen, sondern können sie sich bereits so vorstellen.

Alternative: Vygotskys Entwicklungsgerüst

Wie Piaget entwickelte auch Lev Vygotsky eine Theorie über die Entwicklung der kindlichen Kognitionen. Doch anders als Piaget vertrat er die Annahme, dass Kinder sich weniger durch die Interaktion mit der physischen Umwelt entwickelten, sondern viel mehr mit Hilfe der sozialen Umwelt. Er sah zudem die Sprache als ein zentrales Element des Denkens an. Durch das Erlernen von Worten könnten Kinder seiner Theorie zufolge eine Art Gerüst bauen und erklimmen, um immer höhere Denkleistungen zu erreichen.

Verlauf der sozialen Entwicklung

Babys sind gesellig. Sie reagieren erfreut auf die Zuwendung ihrer Bezugspersonen und haben eine Vorliebe für Gesichter und Stimmen. Dieses Verhalten ändert sich mit etwa 8 Monaten, denn ab dann beginnen sie zu fremdeln. Das zeigt sich in einer Angst vor unbekannten Menschen.

Die Bedeutung des Bindungsverhaltens

Die Bindung zwischen Kindern und ihren Eltern ist prägend.

Was ist mit Bindung gemeint?
Es ist als eine Art emotionales Band zu verstehen, welches zwischen dem Kind und seiner Bezugsperson entsteht. Die Beschaffenheit dieses Bandes zeigt sich in der Reaktion des Kindes auf die Anwesenheit und Trennung von seiner Bezugsperson. Eine gute Bindung zeichnet sich daher etwa dadurch aus, dass das Kind die Nähe seiner Bezugsperson sucht und Schmerz oder Trauer zum Ausdruck bringt, wenn es von der Bezugsperson getrennt ist.

Anders als früher erwartet, kommt diese Bindung nicht allein durch die Funktion der Eltern als Nahrungsspender zustande. Vielmehr sind es Faktoren wie Vertrautheit und Körperkontakt, welche die Bindung überhaupt erst aufbauen.

Eltern müssen mehr als nur Nahrung bieten

Die Rolle des Körperkontaktes wurde bereits in den 1950er Jahren näher untersucht. Die Psychologen Margaret und Harry Harlow zogen Affenbabys mit zwei „künstlichen Müttern“ auf. Die eine bestand aus einem Drahtgestell, an dem eine Nuckelflasche befestigt war. Die andere hingegen bot keine Nahrung, war jedoch mit einer weichen Plüschdecke bezogen. Entgegen den Erwartungen der Psychologen verbrachten die Äffchen ihre Zeit fast ausschließlich bei der „Plüschmutter“. Beim Entfernen dieser künstlichen Mutter zeigten die kleinen Affen Anzeichen von Stress sowie Kummer.

Ergänzungen dieser Versuche durch das Wiegen der Äffchen im Arm, Nahrung und Wärme zeigten, dass diese Attribute die Bindung vom Affenkind an die künstliche Mutter noch verstärkten. Beim Menschen ist das nicht anders. Die meiste Kommunikation zwischen Eltern und Säugling geschieht auf der Ebene der Berührung. Die Bindung, die dadurch entsteht, signalisiert dem Kind Sicherheit. Sicher gebundene Kinder erforschen ihre Umwelt neugieriger als unsicher gebundene Kinder. Sie sehen in ihren Bezugspersonen eine sichere Basis, zu der sie immer wieder zurückkehren können.

Vertrautheit und Bindung

Neben Körperkontakt ist die Vertrautheit eine weitere Komponente, die das Bindungsverhalten beeinflusst. Diese Vertrautheit wird von vielen Tieren in einer kritischen Phase entwickelt. Mit dieser Phase ist eine Zeitspanne gemeint, in der Entwicklungsprozesse leicht durch bestimmte Erfahrungen angestoßen werden.

Ein Beispiel dafür ist die Prägung. Hühner- oder Gänseküken sind direkt nach dem Schlüpfen in einer kritischen Phase, in der sie das erste sich bewegende Objekt als ihre Mutter wahrnehmen. Dieser recht starre Bindungsprozess wurde von Konrad Lorenz erforscht. Er entdeckte, dass die Küken ihr Bindungsverhalten zwar am stärksten an Artgenossen knüpfen. Doch während der kritischen Phase kann die Prägung auch auf etliche andere Tiere, Menschen oder bewegliche Gegenstände gerichtet werden.

Zwar unterliegen menschliche Kinder nicht dieser Form von Prägung, doch ihr Bindungsverhalten hängt auch davon ab, wie vertraut sie mit einer anderen Person sind. Vertrautheit allgemein ist etwas, das Kindern ein Gefühl von Sicherheit gibt. Daher wollen viele auch immer wieder dasselbe Buch vorgelesen bekommen oder hätten am liebsten jeden Tag ein bestimmtes Essen auf dem Tisch.

Unterschiedliche Bindungen

Weiter oben haben wir bereits kurz die sichere von der unsicheren Bindung unterschieden. Es gibt jedoch noch weitere Bindungsarten. Untersucht wurden diese mittels des von Mary Ainsworth entwickelten Fremde-Situationen-Tests. In einem Spielzimmer des Psychologischen Instituts wurde das Verhalten von einjährigen Kindern untersucht, welches sie beim Verlassen der Mutter und deren Rückkehr an den Tag legten. Sicher gebundene Kinder spielten in dem Zimmer, erforschten die Umgebung und zeigten sich unruhig, wenn die Mutter den Raum verließ. Bei ihrer Rückkehr suchten sie Kontakt zu ihr.

Kinder mit unsicherem Bindungsverhalten hingegen zeigen sich ängstlich oder vermeidend im Umgang mit ihrer Mutter beziehungsweise Bezugsperson. Beim Verlassen des Raums reagierten einige Kinder verstört, weinten heftig oder klammerten sich an die Mutter. Andere hingegen reagierten überhaupt nicht auf das Verschwinden der Mutter und schenkten dieser bei ihrer Rückkehr ebenso wenig Beachtung.

Die Furcht vor einer Trennung von der Bezugsperson ist bei Kindern in der Regel im Alter von etwa 13 Monaten am stärksten ausgeprägt. Danach nimmt diese Trennungsangst wieder ab.

Grundstein für ein sicheres Bindungsverhalten ist eine aufgeschlossene und einfühlsame Handlungsweise der Mutter. Beobachtet diese das Verhalten des Babys aufmerksam und geht angemessen auf dessen Bedürfnisse ein, entwickelt das Kind eine sichere Bindung zu ihr. Ignorieren Mütter die Bedürfnisse ihrer Babys oder kümmern sich nur um sie, wenn es ihnen gerade passt, ergibt sich eine unsichere Bindung.

Das Bindungsverhalten beeinflusst auch das restliche Leben

Fraglich ist jedoch, ob das Bindungsverhalten allein von der Erziehung abhängt oder nicht auch genetisch durch das Temperament des Kindes beeinflusst wird.

Schließlich zeigen sich bereits direkt nach der Geburt Unterschiede im Wesen der Babys. Während manche „einfach“ und entspannt sind sowie regelmäßige Nahrungs- und Schlafmuster zeigen, sind andere „schwierig“.

Es ist wenig verwunderlich, dass das Bindungsverhalten der Kindheit auch spätere Beziehungen beeinflusst. Eine mangelhafte oder gar fehlende Bindung in der frühen Kindheit beeinträchtigt die Entwicklung sozialer Kompetenzen enorm. Ohne eine richtige Bezugsperson können Kinder sich in sich selbst zurückziehen, werden ängstlich und manchmal verlieren sie ihre Sprache oder erlernen sie erst gar nicht.

Fehlende Bindung mit Folgen

Ein historisches Beispiel dafür sind die Kinder aus rumänischen Heimen der 1970er und 1980er Jahre. Der damalige Machthaber führte ein Verbot von Verhütung und Schwangerschaftsabbrüchen ein, um das Humankapital des Landes aufzustocken. Zusätzlich mussten Familien höhere Steuern zahlen, die weniger als fünf Kinder hatten.

In Folge dessen erhöhte sich zwar die Geburtenrate, doch viele Familien hatten ganz einfach nicht die Mittel, sich um ihre Kinderschar zu kümmern. Etliche Kinder zwischen einem und fünf Jahren landeten in Waisenhäusern mit teils ungeschultem und völlig überfordertem Personal. Da teilweise auf eine Pflegekraft 15 Kinder kamen, konnte keine Bindung zwischen den Kindern und einer Bezugsperson entstehen. Spätere Studien zeigten bei den betroffenen Kindern geringere Intelligenzwerte und eine hoch ausgeprägte Ängstlichkeit.

Nicht nur Vernachlässigung, sondern auch Misshandlungen oder Gewalt gegenüber Kindern hinterlässt lebenslange emotionale Narben. Sie werden mit höherer Wahrscheinlichkeit selbst gewalttätig gegenüber den eigenen Kindern. Das trifft allerdings nicht auf alle Menschen zu, die eine „schwierige Kindheit“ hatten. Studien zufolge misshandeln „nur“ rund 30% der in ihrer eignen Kindheit misshandelnden Personen später selbst ihren Nachwuchs.

Doch auch Kinder, die später keine misshandelnden Eltern werden, zeigen Spuren ihrer Kindheit auf. Misshandelte Kinder reagieren extrem sensibel auf wütende Gesichter und sie reagieren auch im Erwachsenenalter ungewöhnlich schreckhaft. Es wurden zudem Zusammenhänge zwischen der erhöhten Aggressionsbereitschaft von in ihrer Kindheit misshandelten Jugendlichen und Erwachsenen und deren Serotoninproduktion gefunden. Serotonin ist ein Neurotransmitter, der sich unter anderem hemmend auf aggressive Impulse auswirkt.

Durch den Stress in der Kindheit entstehen Verbindungen im Gehirn, die auf eine unsichere und gefährliche Umwelt ausgelegt sind. Wachsen Kinder mit der Erfahrung auf, dass die Welt ein feindseliger Ort ist, müssen sie damit umzugehen lernen. Selbst ein gewalttätiges Verhalten zu entwickeln ist da eine mögliche Folge.

Wie entwickeln Kinder ein Sozialkonzept

Während die Entwicklung einer stabilen Bindung in der früheren Kindheit von großer Bedeutung ist, ist die Herausbildung eines Selbstkonzeptes die Aufgabe in den darauffolgenden Jahren. Mit dem Selbstkonzept ist das Gefühl einer eigenen Identität gemeint, wozu auch der Selbstwert gehört. Mit rund 12 Jahren haben die meisten Kinder ein Selbstkonzept entwickelt.

Der Spiegeltest ist eine Möglichkeit herauszufinden, ob ein Kleinkind sich selbst erkennt. Wird einem etwa 15 bis 18 Monate altem Kind ein roter Punkt auf die Nase gemalt und sehen sie sich anschließend im Spiegel, greifen sie sich an die eigene Nase. Ein Kind mit sechs Monaten greift stattdessen nach dem Spiegelbild. Interessanterweise reagieren manche Tiere ebenso auf den Spiegeltest. Dazu zählen etwa Delfine, Elefanten, Elstern und Menschenaffen.

Etwa im Grundschulalter fangen Kinder an, sich mit anderen Kindern zu vergleichen, schreiben sich selbst bestimmte Eigenschaften und eine Geschlechtszugehörigkeit zu. Gleichzeitig entwickeln sie eine Vorstellung davon, wie sie selbst gern wären – sie machen sich also ein Bild von ihrem idealen Selbst. Wie das Selbstbild eines Kindes geschaffen ist, zeigt sich in seinem Verhalten. Ein stabiles und positives Selbstkonzept spiegelt sich in Optimismus und Geselligkeit wider. Auch ein unabhängiges und durchsetzungsfähiges Verhalten ist mit einem positiven Selbstkonzept wahrscheinlicher. Damit sich ein gutes Selbstkonzept entwickeln kann, ist auch der Erziehungsstil wichtig.

Welche Erziehungsstile gibt es

Grundsätzlich werden drei Erziehungsstile unterschieden. Während autoritäre Eltern ihre Kindern Regeln auferlegen und erwarten, dass sie diesen widerspruchslos gehorchen, bestrafen permissive Eltern ihren Nachwuchs nicht und geben dessen Wünschen ständig nach. Autoritative Eltern hingegen kombinieren Elemente dieser zwei Stile. Sie sind zwar empathisch, stellen aber auch Erwartungen und Forderungen an die Kinder. Doch statt den Kindern kommentarlos Regeln vorzuschreiben, diskutieren sie diese mit ihnen (vor allem, wenn die Kinder bereits etwas älter sind).

Kinder autoritativer, freundlicher und interessierter Eltern zeichnen sich häufig durch ein hohes Selbstwertgefühl, starke soziale Kompetenzen und ein ausgeprägtes Selbstvertrauen aus. Ein autoritärer Erziehungsstil führt hingegen eher zu einem geringen Selbstwertgefühl bei den Kindern und schwächer ausgeprägten sozialen Fähigkeiten. Werden Kinder permissiv aufgezogen, neigen sie häufig zu unreiferem und aggressiverem Verhalten als andere Kinder.

Liegt es also nur am Erziehungsstil

Bei diesen Zusammenhängen handelt es sich allerdings lediglich um Korrelationen, nicht um Kausalitäten. Der Unterschied besteht darin, dass Korrelationen bloße Zusammenhänge beschreiben, während Kausalität eine Ursache-Wirkung-Beziehung zum Ausdruck bringt. Das Verhalten der Kinder hängt zwar mit dem Erziehungsstil zusammen, muss allerdings nicht die Folge davon sein. Es könnte beispielsweise auch sein, dass das Temperament der Kinder das elterliche Verhalten beeinflusst. So könnte ein ohnehin reiferes Verhalten eines Kindes dazu führen, dass seine Eltern offen über bestimmte Regeln mit ihm reden und Ausnahmen davon mit ihm absprechen. Allerdings könnte es auch ein genetischer Ursprung sein, der verhaltensprägend ist. Anders ausgedrückt: Vielleicht vererben sozialkompetente Eltern diese Eigenschaft ganz einfach an ihre Kinder.

Zusammenfassung

  • Der Mensch wird mit rund 23 Milliarden Neuronen geboren. Das sind bereits so gut wie alle Gehirnzellen, die wir haben.
  • Diese sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht sehr vernetzt. Die Verbindungen kommen erst im Laufe der Zeit durch Erfahrungen zustande. Vor allem zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr kommt es zu einem rasanten Anstieg von Verknüpfungen. Geschaffene Verbindungen werden nicht zwingend beibehalten. Selten genutzte verschwinden wieder.
  • Babys lernen bestimmte Bewegungen aufgrund von vorprogrammierten Reifungsprozessen: Erst sitzen, dann krabbeln, dann laufen. Die Abfolge der erlernten Bewegungen ist bei Kindern gleich, die Zeitpunkte variieren jedoch leicht. Zwanghaftes Üben bringt daher keinen Erfolg.
  • Bewusste Erinnerungen treten erst ab etwa dem dritten Geburtstag ein. Lernprozesse finden jedoch bereits vorher statt. Nur entziehen sich diese unserem Bewusstsein.
  • Jean Piaget beschäftigte sich mit der kognitiven Entwicklung von Kindern und stellte eine Theorie auf. Nach dieser gibt es verschiedene Phasen, in denen Kinder zu unterschiedlichen kognitiven Leistungen fähig sind. Dazu zählen die sensumotorische Phase, die präoperatorische, die konkret-operatorische und die formal-operatorische Phase.
  • Zudem ging er davon aus, dass Kinder ihr Wissen über die Welt in Schemata einordneten. Diese Wissensstrukturen werden durch neue Informationen umgeformt (Akkomodation) oder die neuen Erfahrungen werden in diesen Mustern eingeordnet (Assimilation). Ein Wissensfortschritt ergibt sich durch die Interaktion des Kindes mit seiner Umwelt.
  • Eine weitere Theorie stammt vom russischen Psychologen Lev Vygotsky. Dieser stellte die Theorie eines Entwicklungsgerüsts auf. Anders als Piaget stellte er die Sprache und die soziale Interaktion in den Vordergrund.
  • Der Mensch ist ein soziales Wesen – auch schon im Säuglingsalter. Eine gute Eltern-Kind-Bindung ist wichtig. Dazu gehört nicht nur das Spenden von Nahrung durch die Hand der Eltern, sondern auch elterliche Liebe in Form von Körperkontakt und Aufmerksamkeit. Auch die Vertrautheit spielt eine wichtige Rolle beim Aufbau einer stabilen Bindung im frühen Kindesalter.
  • Anders als beispielsweise Entenküken kommt die Bindung zwischen Eltern und Kind nicht aufgrund von Prägung zustande.
  • Mit dem Fremde-Situationen-Test kann die Bindung zwischen Kind und Bezugsperson untersucht werden. Eine sichere Bindung ergibt sich am ehesten durch die aufmerksame Beobachtung des Babys seitens der Mutter, welche auf dessen Bedürfnisse angemessen eingeht.
  • Das Temperament des Babys spielt allerdings auch eine Rolle. Die Bindung entsteht daher eher durch ein Wechselspiel in der Interaktion zwischen Bezugsperson und Kind.
  • Das in der Kindheit ausgebildete Bindungsverhalten beeinflusst auch noch das Erwachsenenleben. Eine mangelnde Bindung kann beispielsweise zu Ängstlichkeit und geringen Sozialkompetenzen führen.
  • Haben Kinder Gewalterfahrungen gemacht, misshandeln sie mit einer höheren Wahrscheinlichkeit später auch ihre eigenen Kinder. Lernen Kinder die Welt als einen feindseligen Ort kennen, entwickeln sie beispielsweise selbst gewalttätige Tendenzen, um mit dieser Welt umzugehen.
  • In der frühen Kindheit ist die Bindung eine vorrangige Entwicklungsaufgabe. In der späteren Kindheit ist die Ausbildung eines Selbstkonzepts entscheidend.
  • Ob Kinder ein Bewusstsein für die eigene Identität entwickelt haben, kann beispielsweise mit Hilfe des Spiegeltests geprüft werden. Zur Ausprägung eines positiven Selbstkonzeptes trägt ein angemessener Erziehungsstil bei.
  • Bei Erziehungsstilen wird zwischen autoritär, permissiv und autoritativ unterschieden. Während der autoritäre als zu streng und der permissive als zu lasch gilt, scheint der autoritative Stil der passende Mittelweg zu sein.

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