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Entwicklung des Gehirns und Nervensystems während der Kindheit


Die Entwicklungspsychologie befasst sich nicht ausschließlich mit der Entwicklung im Kindesalter. Das Interesse dieses Forschungszweigs erstreckt sich von der Geburt bis zum Tod. Im heutigen Artikel befassen wir uns allerdings mit dem Kleinkindalter. Um zu verstehen, wie die psychische Entwicklung von Kindern voranschreitet, muss man auch die körperlichen Reifungsprozesse mit in den Blick nehmen. Daher erfährst du heute mehr über die Entwicklung des Gehirns, womit auch motorische und kognitive Fähigkeiten einhergehen.

Bestimmte Reifungsschritte sind vorprogrammiert: Kinder erlernen beispielsweise zuerst das Sitzen und dann das Laufen. Welche Richtung die verschiedenen körperlichen und geistigen Entwicklungsprozesse einschlagen, hängt mit dem Wechselspiel von Genen und Umwelt ab.

Wie entwickelt sich das kindliche Gehirn

Der Mensch kommt mit einem unausgereiften Gehirn zur Welt. Zwar sind zum Zeitpunkt der Geburt bereits fast alle Gehirnzellen vorhanden, doch es besteht noch ein sehr schwach ausgeprägtes neuronales Netz. Dieses Netz ist aus etlichen Verbindungen geknüpft, welche erst durch die Interaktion mit der Umwelt entstehen. Oder anders gesagt: Je mehr wir über uns und die Welt lernen, desto mehr Verknüpfungen bilden sich aus. Das neuronale Netz wird im Laufe der Zeit also dichter.

Die Ausbildung dieser Verknüpfungen geht recht schnell vonstatten. Würde man den Kortex (Hirnrinde) eines Neugeborenen mit dem eines etwa 15 Monate alten Babys vergleichen, sähe man bei dem älteren Kind bereits ein wesentlich komplexeres Netz aus neuronalen Verbindungen zwischen den Gehirnzellen.

Schon vor der Geburt entwickelt das Gehirn sich mit rasender Geschwindigkeit

Das Gehirn entwickelt sich also bereits im Mutterleib.
Das tut es dort sogar ziemlich schnell, und zwar kommen pro Minute rund eine Viertelmillionen Nervenzellen hinzu. Es findet eine regelrechte Überproduktion statt, welche sich erst in der 28. Schwangerschaftswoche einpendelt. Geboren werden wir dann mit etwa 23 Milliarden Nervenzellen, die allerdings noch nicht so recht miteinander in Kontakt stehen.

Durch die zunehmende Verknüpfung bilden sich bestimmte Fähigkeiten aus. Das Kind lernt nicht nur zu krabbeln oder zu laufen. Auch die kognitiven Fähigkeiten reifen heran. Zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr kommt es zu einem rasanten Wachstum der neuronalen Verbindungen: Das Kind lernt, seine Aufmerksamkeit und sein Verhalten zu steuern.

Als letztes entwickeln sich die Assoziationsfelder. Das sind Bereiche des Kortex, die für das Gedächtnis, das Denken und das Sprechen mitverantwortlich sind. Mit diesem Reifeschritt geht noch einmal ein großer Zuwachs an kognitiven Fähigkeiten einher. Bis zur Pubertät bilden sich Nervenbahnen weiter aus, die die Beweglichkeit und das Sprachvermögen unterstützen. Anschließend kommt es zu einer Art Ausdünnungsprozess: Überzählige Nervenverbindungen gehen zurück oder verschwinden komplett. Was nicht gebraucht wird, geht verloren – use it or lose it.

Die Entwicklung der motorischen Fähigkeiten

Um unsere Bewegungen gezielt steuern zu können, muss einiges in unserem Körper passieren.
Unsere Muskeln sind durch eine Vielzahl von Nervenzellen mit dem Gehirn verbunden. Mit dem Heranreifen des Nervensystems sind wir im Laufe der Zeit immer besser dazu in der Lage, unsere Bewegungen willkürlich zu kontrollieren.

Die motorische Entwicklung verläuft in der Regel so, dass Babys sich zuerst selbst herumdrehen können, bevor sie zum Sitzen in der Lage sind. Und, dass sie erst das Krabbeln und dann erst das Laufen erlernen. Diese Veränderungen in den motorischen Fähigkeiten sind keine Nachahmung. Das Kind hat nicht irgendein anderes Baby gesehen und fängt daraufhin an zu krabbeln. Die Verhaltensänderungen spiegeln das Heranreifen des Nervensystems wider.

Die Reihenfolge der einzelnen Entwicklungssprünge ist normalerweise bei allen Babys gleich. Allerdings kann sich der Zeitpunkt von Kind zu Kind unterscheiden. Das wiederum hängt mit den Umwelteinflüssen zusammen. Zum Beispiel kann rund ein Viertel der Kleinkinder in westlichen Nationen mit rund elf Monaten laufen. Kurz nach ihrem ersten Geburtstag ist bereits die Hälfte der Kinder auf den Beinen und mit etwa 15 Monaten sind circa 90 Prozent der Kleinkinder zum Laufen in der Lage.

Die individuelle Entwicklung wird durch Anlage und Umwelt bestimmt

Für Säuglinge wird empfohlen, sie in Rückenlage schlafen zu lassen.
Das senkt das Risiko eines plötzlichen Kindstods. Mitte der 1990er Jahre lief die Kampagne „Back to Sleep“ an, durch welche nur noch elf statt vorher etwa siebzig Prozent der Säuglinge auf dem Bauch schliefen. Infolgedessen reduzierte sich die Zahl der plötzlichen Kindstode um die Hälfte. In Zusammenhang mit der Rückenlage gibt es Hinweise darauf, dass dadurch das Krabbeln mit einer – wenn auch geringen – zeitlichen Verzögerung einsetzt. Auf den Zeitpunkt der ersten Schritte hat diese Schlafposition jedoch offenbar keinen Einfluss.

Neben solchen und anderen Umwelteinflüssen spielen die Gene natürlich auch eine Rolle bei der kindlichen Entwicklung. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass eineiige Zwillinge meist zur selben Zeit zu laufen beginnen. Um das Laufen überhaupt erlernen zu können, müssen bestimmte biologische Voraussetzungen gegeben sein. Dazu gehört etwa die Reifung des Kleinhirns. Dieser hintere Teil des Gehirns ist für die Motorik zuständig. Es ist in der Regel erst um die Zeit des ersten Jahres herum so weit herangereift, dass das Laufen überhaupt erst möglich wird.

Warum Betteln und Drängen nichts bringt

Ohne diese Voraussetzungen bringen auch noch so viele Übungseinheiten nicht viel. Gehirn und Körper sind einfach noch nicht in der Lage die gewünschten Bewegungsabläufe zu koordinieren. Das gilt sowohl für das Laufen als auch für andere Dinge. Das Zusammenspiel von Nervensystem und Muskeln ist bei Babys bis zu einem bestimmten Alter noch nicht weit genug entwickelt, um etwa die Blase kontrollieren zu können. Daher bringt es auch nichts, das Kind dazu zu zwingen, aufs Töpfchen zu gehen. Durch ein unerbittliches Drängen kommt es selten zum Erfolg, sondern meistens nur zu Frust und Stress. Kinder brauchen Zeit für ihre Entwicklung.

Das kindliche Gedächtnis

Unser Erinnerungsvermögen reicht meist bis zu unserem dritten Geburtstag zurück.
Oder kannst du dich noch daran erinnern, was du in der Zeit vor dem ersten Tag im Kindergarten gemacht hast? Dass wir uns in der Regel nicht an Dinge vor unserem dritten Geburtstag erinnern können, wird auch als infantile Amnesie bezeichnet.

Eine Untersuchung mit Vorschulkindern, die einen Brand miterlebt hatten, zeigte beispielsweise folgendes: Waren die Kinder dieser Vorschulgruppe zur Zeit des Brandes zwischen vier und fünf Jahre alt, konnten sie sich auch sieben Jahre nach dem Feuer an dessen Ursache und den Alarm erinnern. Waren Kinder zu diesem Zeitpunkt erst oder knapp drei Jahre alt, erinnerten sie sich später weder an die Ursache noch an ihren Aufenthaltsort während des Alarms.

Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass das bewusste Erinnerungsvermögen erst in einem Alter von rund 3,5 Jahren einsetzt. Im Laufe der Kindheit bildet sich das Gedächtnis immer besser aus. Für das Erinnerungsvermögen besonders relevante Bereiche des Gehirns (Frontalllappen und Hippocampus) reifen über das Kindesalter hinaus noch weiter heran. Ihre Entwicklung ist erst im Jugendalter abgeschlossen.

In unserem Gehirn schlummern unbewusste Erinnerungen

Das bedeutet allerdings nicht, dass unser Gedächtnis im frühen Kleinkindalter völlig inaktiv ist. Wir können bis zu einem gewissen Alter nur keine bewussten Erinnerungen abspeichern. Ein eher zufälliger Versuch aus den Sechzigern des 20. Jahrhunderts zeigte, wie früh unser Gehirn schon zu unbewussten Erinnerungen fähig ist.

Um nicht ständig selbst das Mobile ihres zwei Monate alten Sohnes anstoßen zu müssen, band die Psychologin Carolyn Rovee-Collier eine Schnur um den Fuß des Babys und knüpfte das andere Ende ans Mobile. Wenn das Kind strampelte, bewegte es das Spielzeug von nun an selbst. Dabei bemerkte sie, dass der Junge scheinbar absichtlich die Bewegungen mit seinem Fuß wiederholte, um die Bewegung des Mobiles zu erzeugen.

Auch Babys lernen und erinnern sich – wenn auch unbewusst

Rovee-Collier führte dieses kleine Experiment daraufhin noch mit anderen Säuglingen durch. Und siehe da: Auch diese traten häufiger mit dem Fuß, der mit dem Mobile verbunden war, sobald sie den Zusammenhang zwischen ihren eigenen Bewegungen und denen des Spielzeugs erkannt hatten.

Auch am Folgetag konnten die Babys sich daran erinnern und strampelten weiterhin mit ihrem Fuß. Es fand offensichtlich ein Lernprozess statt, obwohl noch keine bewusste Erinnerung vorhanden war. Das zeigte sich übrigens auch dadurch, dass die Babys bei einem anderen Mobile nicht strampelten. Das taten sie erst wieder, wenn sie das bereits bekannte sahen, mit dem sie den Zusammenhang erlernt hatten.

Unser Gehirn speichert Erfahrungen ab, auch wenn wir uns nicht bewusst an sie erinnern oder aktiv darauf zugreifen können.

Zusammenfassung

  • Der Mensch wird mit einem nahezu vollständig entwickelten Gehirn zur geboren. Das sind rund 23 Milliarden Nervenzellen.
  • Jedoch bestehen zum Zeitpunkt der Geburt noch sehr wenige Verbindungen zwischen den einzelnen Nervenzellen. Daher sind die kognitiven und motorischen Fähigkeiten von Säuglingen noch sehr gering ausgeprägt.
  • Diese Fähigkeiten nehmen dadurch zu, dass sich ein immer komplexeres neurales Netz ausbildet.
  • Das Kind lernt zu krabbeln, zu laufen, zu sprechen. In den folgenden Jahren reifen Hirnbereiche heran, welche die Steuerung von Verhalten und Aufmerksamkeit ermöglichen.
  • Es findet jedoch auch ein Ausdünnungsprozess statt. Werden bestimmte Verknüpfungen kaum oder gar nicht genutzt, bilden sie sich zurück oder verschwinden gänzlich.
  • Durch Reifungsprozesse im Gehirn, dem restlichen Nervensystem und den Muskeln sind Kinder zunehmend zu bewussteren Bewegungen fähig. Sie lernen zu greifen, zu krabbeln, sich aufzusetzen und zu laufen.
  • Die Reihenfolge dieser Entwicklungsschritte ist genetisch vorprogrammiert. Der Zeitpunkt der einzelnen Schritte ist jedoch ein individueller.
  • Sowohl Gene als auch Umwelt haben einen Einfluss darauf, wann sich welche Entwicklungsschritte zeigen. Babys, die in Rückenlage schlafen, krabbeln etwas später. Das Laufen erlernen sie jedoch ohne Verzögerung.
  • Dass neben diesem Umweltfaktor auch die Gene eine Rolle spielen, zeigen Studien mit eineiigen Zwillingen. Diese beginnen häufig zeitgleich mit dem Laufen.
  • Viele Entwicklungsschritte sind von Reifungsprozessen abhängig. Ist ein Kind rein körperlich noch nicht in der Lage zu laufen oder aufs Töpfchen zu gehen, bringen Üben und Drängen nichts. Das Nervensystem ist einfach noch nicht so weit.
  • Das bewusste Gedächtnis setzt ab einem Alter von etwa 3,5 Jahren ein. Allerdings werden auch lange vorher bereits unbewusste Erinnerungen gespeichert. Das zeigte beispielsweise eine Versuchsreihe mit Säuglingen. Ihre Füße wurden dabei mit einem Mobile verbunden. Wenn sie bemerkten, dass sie durch das Strampeln ihrer Füße das Mobile in Bewegung versetzten, strampelten sie umso mehr.
  • Sie konnten sich auch am nächsten Tag noch daran erinnern. Allerdings zeigten sie das erlernte Verhalten nur bei dem ursprünglichen Mobile. Wurde ein neues über ihnen aufgehängt, strampelten sie nicht.

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