Was ist das Abendland: Bedeutung, Wortherkunft und Geschichte
Der Begriff „Abendland“ bzw. das christliche Abendland beschreibt ursprünglich den Westen, genauer gesagt Mittel– und Westeuropa. Denn im Westen geht am Abend die Sonne unter. Um das Wort besser zu verstehen, beschreibt man es am besten in Verbindung zu seinem Gegenteil, dem „Morgenland“.
Warum heißt es Abendland: Wortherkunft und Ursprung
Abend- und Morgenland sind sind zwei Wörter, welche relativ neu und somit erst wenige hundert Jahre alt sind. Zuvor wurden die lateinischen Begriffe „Okzident“ und „Orient“ verwendet. Im Altertum und im Mittelalter waren die in Europa lebenden Menschen davon überzeugt, Europa sei der westlichste Teil der Erde. Denn Amerika war noch lange nicht entdeckt.
Da aber im Westen die Sonne am Abend untergeht, nannte man den Westen den Okzident, vom lateinischen „sol occidens“, die untergehende Sonne. Entsprechend nannte man den Osten, wo die Sonne am Morgen aufgeht, den Orient, vom ebenfalls lateinischen „sol oriens“, die aufgehende Sonne. Beide Begriffe bezogen sich also auf den astronomischen Lauf der Sonne am Himmel. Es waren rein geografische und wertfreie Begriffe.
Das deutsche Wort „Morgenland“ für den Orient erschien zum ersten Mal im Jahr 1522, und zwar in der Übersetzung der Bibel durch Martin Luther. Luther hat für diese Übersetzung viele deutsche Wörter neu erschaffen, und so auch dieses. Im Vers 2,1 des Matthäus-Evangeliums ist im lateinischen Original von den „magis ab oriente“ die Rede, die den neugeborenen König der Juden suchen, und Luther machte daraus die „Weisen aus dem Morgenland“. Der Orient, das Morgenland lag hier also nicht östlich von Europa, sondern östlich von Jerusalem. Das Wort war immer noch rein geografisch und wertneutral.
Wenige Jahre später, 1529, wurde dann, so weit bekannt, zum ersten Mal das Wort „Abendländer“ verwendet. Dies geschah in klarer Anlehnung an das von Luther neu geschaffene Wort. Caspar Hedio, ein deutscher Theologe und Historiker, benutzte den Begriff in seinem Werk „Cronica“. Er meinte damit aber nicht ganz allgemein den Westen, sondern er bezog sich auf die westlich gelegenen Gebiete des Römischen Reiches unter Kaiser Honorius.
Diese Gebiete waren nach der Reichsteilung von 395 und spätestens im Jahr 476 verloren, da das Weströmische Reich unterging. Hedio schrieb „Abendländer“, also in der Mehrzahl, und er hat damit nicht „das Abendland“ als einheitlichen Block gemeint. Diese Vorstellung kam erst später auf. Aber Hedio hat dem Begriff doch eine historische und somit auch eine politische Dimension verliehen, die der alte Begriff „Okzident“ nicht hatte.
Die Definition der Abendländer durch Hedio macht auch klar, warum die skandinavischen Staaten im Allgemeinen nicht zum Abendland gerechnet werden – Skandinavien war nie Teil des Römischen Reiches.
Deutungswandel des Begriffes Abendland
Nun war also der Begriff „Abendland“ in der Welt, und seine politische Bedeutung war zwar vorhanden, aber nicht ganz eindeutig. Vor allem die Trennlinie zwischen dem Abendland und dem Morgenland war flexibel und konnte, je nach Bedarf, zwischen der westlichen und der orthodoxen Kirche verlaufen oder zwischen dem Christentum insgesamt und dem Islam.
Während etwa im englischen und französischen die Begriffe „orient“ und „occident“ weiterhin fast nur eine geografische Bedeutung hatten, behielten die Wörter „Morgenland“ und „Abendland“ ihre politische und kulturelle Bedeutung, die sich im weiteren Verlauf der Geschichte weiter verstärkte. Zunächst einmal wurde der Orient im Westen sogar modern. Die Geschichten aus tausendundeiner Nacht wurden nach 1700 gern gelesen, und Goethe veröffentlichte 1819 seinen „West-Östlichen Divan“, der stark von der Dichtung des Persers Hafis beeinflusst war.
Aber Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich in Deutschland eine Gegenbewegung zur Aufklärung: die Romantik mit ihrem verklärenden Rückgriff auf das Mittelalter. Für die Romantiker war das Mittelalter keine finstere Epoche, sondern die Keimzelle europäischer Kultur. So beschrieb es etwa Novalis im Jahr 1799 in seiner Schrift „Die Christenheit oder Europa“.
1828 griff Friedrich Schlegel den Begriff „Abendland“ auf, meinte mit ihm eine gute Epoche zwischen dem Ende des Römischen Reiches und der Französischen Revolution und stellte das Abendland als einheitlichen Block gegen den Islam auf. Was das Abendland in den Augen der Romantiker zu einem einzigen, europäischen Kulturraum einte, war ein angebliches gemeinsames romanisches, germanisches und christliches Erbe. Diese Vorstellung war sehr erfolgreich und fand sich schließlich in praktisch allen historischen Lehrbüchern dieser Zeit wieder. Besonders Karl der Große fand als vorgeblicher Einiger des Abendlandes große Verehrung.
Der Erste Weltkrieg, in dem praktisch alle Staaten Europas gegeneinander Krieg führten, beendete die Idee vom gemeinsamen Abendland vorerst, aber nach Ende des Krieges gewann sie neuen Schwung. Dies ergab sich gerade auch als Gegenreaktion auf das Buch „Der Untergang des Abendlandes“ von Oswald Spengler. Zwar verstand Spengler diesen Untergang nicht als Katastrophe, sondern als natürlichen Prozess – den es in den Augen vieler aber doch abzuwenden galt.
Bemerkenswert wenig hat die Propaganda der Nationalsozialisten auf den Abendland-Begriff zurückgegriffen, und wenn doch, dann haben sie ihn noch zusätzlich rassistisch aufgeladen. Für die Gegner des Nationalsozialismus stand das Wort „Abendland“, das sie mit „Christentum“ und „Humanität“ in Verbindung brachten, sogar gegen das Regime.
Entsprechend erlebte der Begriff „Abendland“ nach dem Ende der Nazi-Herrschaft einen regelrechten Boom. Die Abendland-Idee sollte die Basis von konservativ–bürgerlichen Werten sein, die sich sowohl vom individualistischen Westen wie auch vom kollektivistischen Osten der Sowjetunion abgrenzen wollten. Schon 1946 plakatierte die CDU „Rettet die abendländische Kultur!“, und 1949 nannte Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung den „Geist christlich-abendländischer Kultur“ die Grundlage seiner Kanzlerschaft. Die abendländische, auf das Mittelalter zurückgreifende Idee machte es auch den nationalen Kräften in Deutschland einfacher, sich mit der Idee europäischer Zusammenarbeit anzufreunden.
Nach dem Ende des Kalten Krieges, Ende der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, verlagerte sich die Trennlinie zwischen Abendland und Morgenland wieder weg vom Politischen und hin zu einer Abgrenzung des Abendlandes vom Islam als der Kultur im Morgenland. So wird zum Beispiel gegen einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union argumentiert, sie gehöre historisch nicht zum christlichen Abendland.
Auch 500 Jahre nach seiner Entstehung bleibt der Begriff „Abendland“ unklar und schwer zu greifen. Ob er geografisch, kulturell oder religiös zu verstehen ist, bleibt ungewiss, wie man auch daran erkennt, dass die religiöse Zuschreibung „christlich“ in den letzten Jahrzehnten vermehrt zu „christich-jüdisch“ erweitert wurde. Da es ein solches friedliches Nebeneinander der beiden Religionen aber kaum gegeben hat, ist es zumindest schwierig, den Begriff „Abendland“ entsprechend zu definieren. Welche neuen Deutungen sich in Zukunft ergeben, bleibt abzuwarten.