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Mentale Fähigkeiten von Neugeborenen und Säuglingen


Die Vorstellung vom passiven Neugeborenen hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Mittlerweile weiß die Forschung, wie viel sich bereits in den Köpfen von Babys abspielt. Die frühere Annahme, dass Säuglinge eigentlich nicht viel mehr leisten als schreien und schlafen, änderte sich durch die Untersuchung der Fähigkeiten von Babys und Kleinkindern drastisch. Durch die Entwicklung verschiedener Forschungsmethoden haben wir immer mehr über die Welt der Neugeborenen erfahren. Mehr über Reflexe, Fähigkeiten und Vorlieben der Jüngsten im folgenden Artikel.

Reflexe sichern das Überleben

Der Mensch kommt mit einer Reihe von Reflexen zur Welt. Diese sorgen in erster Linie erst einmal dafür, dass wir überhaupt am Leben bleiben. Ein wichtiger Reflex bezieht sich daher auch auf die Nahrungsaufnahme. Berührt man etwa mit dem Finger die Wange eines Neugeborenen, dreht es sofort seinen Kopf in die Richtung der Berührung und sucht mit dem Mund nach der Brust seiner Mutter.

Hat es diese gefunden, um schließt es die Brustwarze (oder den Sauger der Flasche) mit dem Mund und beginnt zu saugen. Dabei zeigt es eine sehr gut aufeinander abgestimmte Abfolge von Schluck- und Saugbewegungen sowie der Atmung. Weitere Beispiele für Reflexe sind der Schreit- oder auch der Greifreflex. Diese und andere Reflexe sind jedoch vergänglich und schleichen nach einer bestimmten Zeit aus. Es wird vermutet, dass diese Reflexe eine bahnende Wirkung haben – sie könnten also das Erlernen bestimmter Bewegungsabläufe initiieren und erleichtern, so wie beispielsweise der Schreitreflex das Gehen.

Habituation als Forschungsmethode

Während Neugeborenen früher kaum Fähigkeiten zugesprochen wurden, weiß die heutige Forschung, wie viel Babys bereits können. Um zu untersuchen, was Neugeborene können, nutzen Forschende die Habituation als Hilfsmittel. Mit Habituation ist eine Art der Gewöhnung gemeint. Wird einem Organismus (egal ob einer Schnecke oder einem Menschen) ein sich immer wiederholender Reiz dargeboten, sinkt die Reaktionsbereitschaft des Organismus auf diesen Reiz. Ein Beispiel dafür ist das Ticken einer Uhr.

Wenn du eine Wanduhr in der Küche hängen hast, wirst du das Ticken die meiste Zeit über gar nicht mehr bewusst registrieren. Erst dann, wenn du dich auf das Ticken konzentrierst, hörst du es plötzlich wieder. Das bedeutet nicht, dass du es vorher nicht wahrgenommen hast. Deine Ohren haben den Ton aufgefangen und ans Gehirn weitergeleitet. Aber irgendwann hat dein Gehirn diesen Klang nicht mehr als relevant eingestuft und das Ticken der Uhr dringt nicht mehr bis in dein Bewusstsein vor. Es sei denn, du legst deinen Fokus darauf.

Was hat das nun mit Neugeborenen zu tun? Auch Babys reagieren mit abnehmendem Interesse auf Reize (auch Stimuli genannt), die ihnen wiederholt präsentiert werden. Auf diese Weise kann untersucht werden, was Neugeborene sehen oder wie gut sie sich an gewisse Dinge erinnern. Wird einem Baby ein neues Bild gezeigt, wirkt es zunächst sehr interessiert. Wird dem Kind dasselbe Bild jedoch immer wieder gezeigt, stellt sich Langeweile ein und das Baby wendet den Blick ab. Zeigt das Baby auch nach einiger Zeit noch Langeweile beim Anblick des bekannten Stimulus, ist das ein Hinweis auf sein Erinnerungsvermögen.

Durch das Zeigen verschiedener Muster können auch weitere visuelle Präferenzen von Neugeborenen beobachtet werden. Die Dauer, mit der sie ein Objekt mit ihrem Blick fixieren, gibt über das Interesse von Babys Auskunft. So finden sie komplexere Schachbrettmuster (mit vielen kleinen Quadraten) offenbar interessanter als einfache Schachbrettmuster (wenige große Quadrate), da sie das komplexere Muster längere Zeit betrachten.

Musterergänzung und Tiefenwahrnehmung

Säuglinge können bereits Muster ergänzen. Im Alter von vier Monaten erkennen sie einen Stab als Ganzes, der sich hinter einem anderen Objekt hin- und herbewegt. Das wird daran deutlich, dass sie bei der Präsentation eines ganzen Stabes und zwei Teilstäben die beiden letzteren länger anschauen. Der ganze Stab scheint ihnen also vertrauter, obwohl sie zuvor nur Teile davon gesehen haben.

Die Tiefenwahrnehmung ist bei der Geburt zwar schon im Ansatz vorhanden, bildet sich jedoch erst in den folgenden Lebensmonaten vollständig aus. Wann sich die Tiefenwahrnehmung entwickelt hat, lässt sich zum Beispiel mithilfe der visuellen Klippe testen. Krabbelnde Babys bewegen sich dabei über eine Glasplatte auf ihre Bezugsperson zu. Die Glasplatte liegt über einem „Abgrund“. Mit etwa sechs Monaten lassen sich die meisten Kinder sich nicht mehr dazu bewegen, über die vermeintliche Klippe zu krabbeln.

Babys sind auf soziale Interaktion aus

Das ist auch nur sinnvoll, da sie sich selbst noch nicht versorgen können. Außerdem sind Menschen generell auf soziale Beziehungen programmiert. Das gilt eben auch bereits für Neugeborene. Babys kommen mit einer Präferenz für Gesichter zur Welt. Sie betrachten beispielsweise Bilder länger, deren Motive Gesichtern ähneln, als Bilder mit anderen Mustern. Doch auch die Reaktionen auf menschliche Stimmen sind eindeutig: Sobald ein Neugeborenes menschliche Stimmen hört, dreht es den Kopf in die entsprechende Richtung.

Nicht nur Seh- und Hörsinn sind auf Menschen ausgerichtet. Auch der Geruchssinn spielt bei Babys eine wichtige Rolle. Der Geruch ihrer Mutter wird bereits in den ersten Tagen nach der Geburt in den neuronalen Verknüpfungen im Gehirn des Neugeborenen fest verankert. Allerdings werden im Zusammenhang mit dem mütterlichen Geruch in diesem frühen Alter auch noch andere Geruchsvorlieben ausgebildet.

Ein Beispiel dafür ist eine Creme, die nach Kamille riecht. 2010 fanden Forscher in einem Experiment heraus, dass Babys von Müttern, welche nach der Entbindung ein Kamillebalsam gegen schmerzende Brustwarzen bekommen hatten, im Alter von 21 Monaten lieber mit Spielzeugen mit Kamillegeruch spielten. Bei den Kindern aus der Kontrollgruppe (also aus der Gruppe, deren Mütter keine Creme mit Kamillegeruch erhalten hatten) zeigte sich dieser Effekt nicht.

Säuglinge präferieren Gesichter und lesen die Emotionen darin

Die Emotionen von anderen erkennen Babys recht früh. Bereits im Alter von 3 Monaten können sie Gesichtsausdrücke voneinander unterscheiden und bevorzugen Bilder mit Gesichtern, die Freude ausdrücken.

Eine weitere soziale Komponente nutzen Babys sehr früh: das Schreien. Das Weinen oder Schreien ist für die soziale Umwelt des Neugeborenen ein deutliches Signal, dass ein bestimmtes Bedürfnis erfüllt werden will. Die Aufgabe der Eltern oder anderer Bezugspersonen ist es dann, herauszufinden, was genau dieses Bedürfnis ist. Schreit das Kind vor Schmerzen, weil es Hunger hat, müde ist oder Langeweile hat?

In der Häufigkeit und Dauer des Schreiens unterscheiden sich Säuglinge allerdings stark voneinander. Interessant dabei ist, dass dieses Ausmaß des Schreiens und Weinens relativ stabil bleibt. Das bedeutet, das Babys, die im Alter von etwa drei Monaten viel weinen, auch noch nach einem Jahr häufig weinen und umgekehrt.

Die Gehirne von Säuglingen leisten bereits so einiges

Wenn ein kleiner Mensch geboren wird, ist sein Gehirn noch relativ unausgereift. Während der Schwangerschaft bilden sich vor allem die subkortikalen Hirnstrukturen vorrangig aus. Das sind die Bereiche, die wichtige Steuerungsfunktionen übernehmen, wie etwa die Atmung, den Herzschlag oder die Reflexe. Kortikale Bereiche sind zum Beispiel für die Persönlichkeit oder auch höhere kognitive Fähigkeiten (zum Beispiel das Sprechen oder das Lösen von Problemen) zuständig.

Es sind also bereits alle Grundstrukturen vorhanden, doch die Verbindungen des neuronalen Netzes entwickeln sich erst im Laufe der Zeit. Die Hirnzellen sind also bereits bei der Geburt vorhanden, nur ihre Verbindungen sind noch ausbaufähig. Die Gehirne von Neugeborenen haben demnach genauso viele Nervenzellen wie die von Erwachsenen. In den ersten Monaten lernt ein Baby unglaublich viel dazu und es bildet sich ein zunehmend komplexer werdendes neuronales Netzwerk aus.

Synapsenbildung und -eliminierung

Die Verbindungen zwischen den Neuronen werden auch als synaptische Verbindungen oder Synapsen bezeichnet. In der ersten Zeit nach der Geburt entstehen durch die Konfrontation mit etlichen neuen Reizen außerhalb des Mutterleibs sehr viele neue Synapsen. Allerdings bleiben nicht alle davon erhalten. Man spricht in diesem Zusammenhang von Synapsenbildung und -eliminierung. Welche Synapsen sich bilden, welche gestärkt werden und welche verloren gehen, ist erfahrungsabhängig. Das Gehirn von Kindern befindet sich allerdings nicht nur in der Zeit kurz nach der Geburt in einer Umbauphase.

Die Umstrukturierung von verschiedenen Gehirnarealen findet zeitversetzt statt. Im ersten Lebensjahr passiert beispielsweise in den Arealen besonders viel, die für die visuelle Wahrnehmung zuständig sind. Im Vorschulalter liegt der Entwicklungsfokus auf den Bereichen, die für Aufmerksamkeitsprozesse und Handlungsplanung zuständig sind. Während der Pubertät ist dann noch einmal einiges im Umbruch, so dass erst im Erwachsenenalter so etwas wie Ruhe im Gehirn eintritt. Allerdings verändert sich das Gehirn über die gesamte Lebensspanne hinweg, denn solange wir Neues lernen und neue Erfahrungen machen, entstehen auch neue neuronale Verbindungen. Kindheit und Jugendalter sind dennoch die Hochphasen dieser (auch als Neuroplastizität bezeichneten) Umbauprozesse.

Zusammenfassung

  • Bereits in den Gehirnen von Babys spielt sich eine Menge ab.
  • Der Mensch hat angeborene Reflexe, welche das Überleben sichern und beispielsweise die motorische Entwicklung unterstützen.
  • Die Habituation ist ein Hilfsmittel zur Erforschung der Präferenzen und Interessen von Säuglingen. Je länger sich ein Baby einen bestimmten Reiz ansieht, desto interessierter ist es daran. Langweilt es sich hingegen, wendet es den Blick von diesem Reiz ab. Letzteres ist der Fall, wenn der Reiz bereits bekannt ist.
  • Babys können im Alter von vier Monaten Muster ergänzen. Die visuelle Klippe ist eine Möglichkeit, um die Tiefenwahrnehmung von Babys zu untersuchen. Auch Geruchspräferenzen bilden sich im jungen Alter aus.
  • Säuglinge sind (wie alle Menschen) auf soziale Interaktion programmiert. Sie drehen ihren Kopf in die Richtung, aus der sie menschliche Stimmen hören, sie sehen sich gern Gesichter an und nutzen das Schreien als soziales Hilfsmittel, um auf ihre eigenen Bedürfnisse aufmerksam zu machen.
  • Die Tendenz wenig oder viel zu schreien unterscheidet sich individuell und ist relativ zeitstabil.
  • Vor der Geburt bilden sich hauptsächlich die Bereiche des Gehirns aus, die die überlebenswichtigen Steuerungsfunktionen übernehmen. Ein Baby hat auch bereits genau so viele Nervenzellen wie ein Erwachsener. Doch die Verbindungen zwischen diesen besteht noch nicht im gleichen Ausmaß. Wie die einzelnen Neurone untereinander verknüpft werden, ist erfahrungsabhängig.
  • In der Kindheit und Pubertät finden viele Umbauprozesse im Gehirn statt. Allerdings entstehen und verschwinden über die gesamte Lebensspanne hinweg Synapsen. Diese Neuroplastizität hat jedoch in den ersten Lebensmonaten und -jahren sowie in der Jugendzeit seine Hochphasen.

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