So entwickeln sich geistige Reife und Moral bereits bei Jugendlichen in der Adoleszenz
In der Zeit der Adoleszenz verändert sich nicht nur der Körper. Jugendliche werden auch durch die Reifung ihres Gehirns in ihrem Denken und Handeln beeinflusst. In ihrem Denken sind gerade noch junge Teenager sehr in den Gedanken um die eigene Person verhaftet. Sie gehen häufig davon aus, dass ihre Erfahrungen und Erlebnisse einzigartig seien und andere sie deshalb auch nicht verstehen könnten.
Gleichzeitig wird es Menschen im Jugendalter ebenfalls sehr wichtig, was andere von ihnen denken. Für Jugendliche könnte es daher ein beruhigender Gedanke sein, dass die Sorgen der Gleichaltrigen ebenso um sich selbst kreisen. Daher machen sich die Altersgenossen wahrscheinlich weit weniger Gedanken um einen Jugendlichen, als dieser befürchtet. In der Phase der Adoleszenz kommt es zu verschiedenen kognitiven Entwicklungen. In diesem Artikel erfährst du mehr über die Fähigkeit zum Schlussfolgern und das moralische Denken von Jugendlichen.
Inhalt
Beginn des Schlussfolgernden Denkens in der Jugendzeit
Piaget zufolge befinden sich Jugendliche ab dem 12. Lebensjahr im formal-operatorischen Stadium. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget teilte die Zeit von der Geburt bis zum Erwachsenenalter in vier unterschiedliche Stadien ein. Jedes Stadium erstreckt sich über einen bestimmten Zeitraum und beinhaltet spezifische Entwicklungsmerkmale.
So beläuft sich das erste Stadium auf die ersten beiden Lebensjahre (sensumotorisches Stadium). Das präoperatorische Stadium erstreckt sich von zweiten bis sechsten beziehungsweise siebten Lebensjahr, während das anschließende konkret-operatorische Stadium bis zum elften Lebensjahr dauert. Vom zwölften Lebensjahr bis zum Erwachsenenalter dauert das formal-operatorische Stadium. Dieses zeichnet sich durch die Fähigkeit zum abstrakten und logischen Denken aus sowie ein reiferes Moralempfinden.
Das formal-operatorische Stadium nach Piaget
Piaget verortet auf diesem Stadium die höchste Stufe der kognitiven Entwicklung. Jugendliche seiner Ansicht nach in dieser Phase dazu imstande, sich über sich selbst und die Welt um sich herum Gedanken zu machen. Es finden Vergleiche statt: Jugendliche können sich Gedanken darüber machen, wie die Welt idealerweise aussehen könnte und vergleichen diese Vorstellung mit der Realität. Diese Vergleiche beschränken sie dabei nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf ihre Eltern, ihre Freunde und die gesamte Gesellschaft.
Sie machen sich Gedanken über das menschliche Wesen, über Gut und Böse und Gerechtigkeit. Die Bilder dieser Konzepte werden detaillierter. So geht es nicht nur um eine Gerechtigkeit, die sich auf alle gleichermaßen verteilen sollte, sondern auch nach Leistung bemessen wird.
Es werden philosophische Fragen gestellt über den Sinn des Lebens oder zu Gott und Religion. Da sie nun hypothetisch denken und Schlussfolgerungen aus Sachverhalten ableiten können, sprechen sie alles an, was ihnen falsch oder geheuchelt erscheint. Das wiederum kann besonders die Kommunikation mit Eltern oder anderen Autoritätspersonen anheizen.
Die Entwicklung des moralischen Denkens
Jugendliche entwickeln eine moralische Haltung. Sie beginnen mit einer differenzierteren Unterscheidung dessen, was richtig und was falsch ist. Die moralische Haltung beinhaltet jedoch nicht nur das Denken, sondern auch Handlungen. Der Entwicklung der Moral im Jugendalter widmete sich Lawrence Kohlberg. Wie Piaget ging auch er davon aus, dass moralisches Handeln in moralischem Denken gründet. Allerdings ist mittlerweile bekannt, dass das Handeln der Menschen nicht allein auf bewussten Überlegungen fußt. Viele Handlungen werden von unbewussten und automatischen Prozessen gesteuert.
Das Stufenmodell des moralischen Denken
Kohlberg erstellte ein Stufenmodell zur Entwicklung des moralischen Denkens. Seiner Meinung nach besitzen Kinder bis zu einem Alter von neun Jahren eine präkonventionelle Moral. Deren Fokus liegt in den eigenen Interessen begründet. Man gehorcht, um nicht bestraft zu werden oder um eine Belohnung zu bekommen. Im frühen Jugendalter hingegen liegt eine konventionelle Moral vor. Man befolgt Gesetze und soziale Regeln, um damit sozial besser angesehen zu werden. Auch der Wunsch nach der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung ist hier ein treibender Faktor.
Erst im späteren Jugendalter und darüber hinaus kommt die postkonventionelle Moral zum Tragen. Das eigene moralische Handeln orientiert sich hier an dem eigenen Glauben an den Grundrechten der Menschen. Außerdem werden selbst definierte ethische Prinzipien zunehmend wichtiger.
Ist die Handlung richtig oder falsch?
Um die individuelle Entwicklungsstufe in Sachen Moral zu untersuchen, stellte Kohlberg sowohl Kinder als auch Jugendliche und Erwachsene vor ein moralisches Dilemma.
Darin ging es beispielsweise darum, ob jemand ein Medikament stehlen solle, um das Leben einer ihm nahestehenden Person zu retten. Die Befragten sollten sagen, ob sie die Handlung als richtig oder falsch ansahen. Anhand der gemachten Aussagen entwickelte Kohlberg die genannten drei Stufen. Diese sah er als eine Art Leiter an. Um auf die eine Stufe zu kommen, musste die vorherige abgeschlossen worden sein. Damit ergibt sich eine vorgeschriebene Reihenfolge. So muss sich die konventionelle Moral entwickelt haben, bevor man zur postkonventionellen übergehen kann.
Kritisiert wird an Kohlbergs Modell, dass es keine kulturübergreifende Gültigkeit besitzt. Die Entwicklung dieses Stufenmodells ist von westlichen Werten beeinflusst. Demzufolge ist die postkonventionelle Stufe nicht zwingend mit Kulturen vereinbar, in der kein starker Individualismus vorherrscht.
Moralischem Empfinden bei Jugendlichen
Anders als Kohlberg und Piaget macht der Sozialpsychologe Jonathan Haidt Moral nicht allein am Denken fest. Für Haidt geht die Moral des Menschen auf dessen moralisches Empfinden zurück. Dieses wiederum hänge mehr von Gefühlen als vom Denken ab. Er beschreibt das moralische Empfinden als instinktives Gefühl oder Intuition. Daher würden wir moralische Urteile eher schnell und automatisch fällen als zuvor lange zu überlegen.
Beobachten wir eine unmenschliche Behandlung, reagieren wir mit Ekel. Hingegen wird uns warm ums Herz und wir empfinden Freude, wenn jemand sich zum Beispiel besonders großzügig verhält. Auch das Bedürfnis, das unrechte Verhalten einer anderen Person zu bestrafen, ist eher emotional als rational bedingt. Dabei kommt es zum Gefühl der Empörung, das in solchen Situationen meist vorrangig ist.
Ein Leben opfern, um fünf zu retten
Dass Emotionen bei moralischen Fragen eine Rolle spielen, zeigte auch das Experiment von Greene und Kollegen (2001). Probanden wurden hier ebenfalls vor ein moralisches Dilemma gestellt: Ein Waggon rast auf eine Gruppe von fünf Personen zu. Durch das Betätigen eines Schalters würde der Waggon auf ein anderes Gleis umgelenkt, auf welches jedoch auch eine Person steht. Würden sie den Schalter betätigen und damit einen Menschen opfern, um fünf andere zu retten? Die meisten Probanden beantworteten die Frage mit Ja.
Verändert sich das Szenario etwas, sieht die Sache allerdings schon anders aus. Die fünf Menschen können in dieser Version nicht durch einen Schalter gerettet werden, sondern nur durch das aktive Schubsen eines anderen Menschen auf die Gleise. Der Waggon würde diese Person überfahren, aber dann zum Stehen kommen. Die anderen fünf Personen wären gerettet. Würden die Befragten die Person auf die Gleise schubsen? Schließlich stünde auch hier der Tod einer Person dem Tod von fünf Personen gegenüber. Die meisten Menschen antworten hier mit Nein.
Die Forscher fanden mittels bildgebender Verfahren heraus, dass sich nur bei der zweiten Variante etwas in den Arealen des Gehirns tut, die für Emotionen zuständig sind. Durch das persönliche Eingreifen (das Schubsen) wurden diese Areale aktiv, die bei der Version mit dem Schalter nicht aufleuchteten.
Wie kommt moralisches Handeln zustande
Sowohl das moralische Denken als auch das moralische Empfinden beziehungsweise Fühlen beeinflusst das moralische Sprechen. Allerdings hat Sprechen weniger Auswirkungen als Handlungen und Emotionen sind flüchtig. Zur Moral gehört daher auch das Handeln. Eben dieses wird jedoch nicht nur von den eigenen Moralvorstellungen und Empfindungen bestimmt, sondern auch durch soziale Gegebenheiten beeinflusst.
Dass die gesellschaftliche Moralvorstellung einen starken Einfluss auf das eigene Handeln hat, zeigte sich leider am traurigen Beispiel der Zeit des Nationalsozialismus. Hannah Ahrendt (Politologin und Philosophin) gab an, dass viele Wachmänner in den Konzentrationslagern „moralisch-normale“ Menschen waren, die vom Bösen korrumpiert wurden.
In den USA gibt es Programme zur Charakterbildung. Diese legen ihr Augenmerk häufig auf moralische Themen, die daraus gezogenen Schlussfolgerungen und das Handeln, das damit einhergehen sollte. Solche Programme sollen Kinder in ihrer moralischen Entwicklung unterstützen. Mit der Reifung des Gehirns findet auch ein Zuwachs an Mitgefühl statt. Der kindliche Fokus auf die eigene Person weitet sich dementsprechend auch auf andere Menschen aus.
Vorteile moralischer Charakterbildungsprogramme
In den Programmen lernen Kinder beispielsweise, wie sie auf die Gefühle anderer mit Empathie reagieren. Auch Selbstdisziplin und Impulskontrolle sind Aspekte des Trainings. Das Kontrollieren von Impulsen hilft dabei, kleine sofortige Belohnungen aufzuschieben, um später größere Belohnungen zu erhalten.
Ein berühmtes Beispiel dafür ist der Marshmallow-Test. Kindern wird ein Marshmallow vor die Nase gesetzt und versprochen, dass sie noch einen zweiten bekommen, wenn sie diesen einen jetzt nicht essen. Befunde aus der Forschung zeigen verschiedene Vorteile von Impulskontrolle auf. Kinder, die ihre Impulse zu bremsen gelernt haben, weisen beispielsweise bessere Noten in der Schule auf. Auch sind sie insgesamt im späteren Leben produktiver und entwickeln mehr soziale Verantwortung.
Die Programme selbst haben sich ebenfalls in verschiedenen Lebensbereichen als hilfreich erwiesen. Kinder und Jugendliche lernen hier beispielsweise, Älteren Menschen zu helfen, die Umgebung sauber zu halten oder sich anderweitig ehrenamtlich zu engagieren. Das wiederum steigert ihr eigenes Kompetenzgefühl. Außerdem wächst ihr Bedürfnis, anderen zu helfen. Langzeitstudien zeigten zudem, dass diese Jugendlichen seltener unentschuldigt im Unterricht fehlen und auch seltener die Schule abbrechen.
Zusammenfassung
- Mit der Reifung des Gehirns geht eine Veränderung im Denken bei Jugendlichen einher.
- Sie sind dazu in der Lage abstrakter zu denken, logische Schlussfolgerungen zu ziehen und moralisch zu denken.
- Das schlussfolgernde Denken entwickelt sich laut Piaget im formal-operatorischen Stadium. Jugendliche stellen Vergleiche zwischen Idealvorstellungen und der Realität an. Sie denken über philosophische Fragen, die menschliche Natur, Gerechtigkeit sowie Gut und Böse nach. Ihre Überlegungen zu abstrakten Themen werden zunehmend differenzierter.
- Kohlberg teilte die Entwicklung des moralischen Denkens in drei Stufen ein: präkonventionelle, konventionelle und postkonventionelle Moral. Die individuelle Stufe der Moral untersuchte er, indem er Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit moralischen Dilemmata konfrontierte. Kritik erntete das Modell vor allem aufgrund seiner westlichen Färbung.
- Haidt geht davon aus, dass Moral nicht allein vom Denken, sondern auch vom Fühlen abhängt. Mit moralischen Entscheidungen gehen Gefühle wie Freude, Ekel oder Empörung einher. Auch Bestrafungen entstammen eher einem emotionalen Bedürfnis. Studien zeigten, dass der Grad der Beteiligung an einer moralischen Handlung mit Emotionen verknüpft ist. Das Betätigen eines Schalters löst keine Reaktion in Gehirnarealen auf, die bei der Vorstellung an das persönliche und direkte Eingreifen beim Opfern eines anderen Menschen aktiv werden.
- Moralisches Handeln hängt nicht allein vom eigenen moralischen Denken und Fühlen ab, sondern auch von den sozialen Gegebenheiten. Gesellschaftliche Normen geben vor, was als gut und schlecht angesehen wird.
- Programme zur Charakterbildung können Kindern und Jugendlichen dabei helfen, das eigene moralische Denken zu schulen. Sie werden zum Beispiel in Bereichen der Empathie, des Engagements oder des Verantwortungsgefühls unterstützt.